Blonde Milchbubis in billigen Sakkos tragen weiße Stoffbinden um den Oberarm, auf denen schwarze Buchstaben das Wort „Ordner“ bilden. Auch richtige Security, nur echt mit Knopf im Ohr, ist anwesend. Etwa 300 Leute haben sich an diesem frühen Abend in Stuttgart-Vaihingen eingefunden. Also nicht in der Landeshauptstadt selbst, sondern einige S-Bahn-Minuten außerhalb. Der Saal versprüht den Charme einer Schulaula samt Bühne mit Stoffvorhängen.
Blickt man in die Menge meint man tatsächlich Eltern und Großeltern zu erkennen, die halb gespannt, halb gerührt auf das Schultheaterstück ihrer lieben Kleinen warten. Die Realität ist freilich eine andere. In wenigen Minuten marschiert hier die obere Riege des derzeit spannendsten politischen Phänomens der Bundesrepublik auf. Die AfD lädt zum Bürgerdialog mit Vertretern der Bundestagsfraktion, angeführt von der Vorsitzenden Alice Weidel. In der Reihe hinter mir erhebt sich ein Rentner mühsam von seinem Sitz – der Dackel muss mal.
Vor der Halle werden wir von einer Gruppe bewegter Demonstranten empfangen. Während wir auf der Suche nach dem Eingang die umfangreiche Polizeipräsenz bestaunen, mustern uns die Wildentschlossenen argwöhnisch. Ich spreche einen Polizisten an, ob man hier noch reinkomme und sofort schlägt die Meute Alarm, die sich offenbar nicht vorstellen kann, dass man kein Rassist sein muss, ja nicht einmal AfD-Sympathisant, um dieser Veranstaltung beizuwohnen. Es wird gerempelt und geschrien („Rassisten, Rassisten!“), die Polizisten gehen nervös dazwischen. Ich fühle mich nicht ernsthaft bedroht, aber die Hemmungslosigkeit der Leute überrascht mich. Früher als erwartet werde ich an diesem Abend das erste Mal mit offenem, ungezügelten Hass konfrontiert.
Meine Begleitung wird von einer sichtlich bewegten jungen Dame dazu aufgefordert, nicht „da rein zu gehen“. Man müsse das nicht tun, um sich ein Bild zu machen, man habe da hinten tolle Infostände aufgebaut. Der AfD zuhören irgendwo zwischen moralischer Verfehlung und Landung in der Normandie.
Die Demonstranten scheinen keine klare Vorstellung davon zu besitzen, womit sie es hier zu tun haben. Die NPD konnte man niederbrüllen, auch weil sie im Zweifel mit weißem Schaum vorm Mund zurück brüllte. Mit der AfD wird das nicht funktionieren. Doch den selbsternannten Verfechtern der Menschlichkeit kommt das gar nicht erst in den Sinn. Mit Rechten reden, das klingt in ihren Ohren wie Pestbeulen aufstechen. Zieht man den Kreis der Ausgrenzung hingegen nur eng genug, verschwindet das Geschwür schon von selbst, so die Logik. Im Verlauf des Abends wird mir immer klarer, dass es auch diese verfehlte Strategie ist, die den demokratischen Aderlass zu verantworten hat, der in der Bundesrepublik um sich greift.
Zum Zweck der Ausgrenzung aus dem demokratischen Milieu scheint derweil jedes Mittel recht. Weiter oben werden die Besucher von einer größeren Menge empfangen, vielleicht 100 Menschen. Sie werfen mit Eiern, kreischen, entfalten eine Drohkulisse. Im Fußballstadion oder davor wird der gegenseitige Hass dadurch aufgebrochen, dass man ja eigentlich die gleiche Liebe teilt. Der Hass, der mir vor dem „Schwaben-Forum“ entgegen schlägt, ist hingegen hysterisch, das heißt, ihm liegt gerade keine Liebe zugrunde, kein authentisches Empfinden für eine Sache, die es zu verteidigen gilt, weil sie bedroht ist. Die AfD und die meisten ihrer Wähler träumen vom autoritären Staat, von Monokultur und Nationalismus, von der Renessaince eines vergangenen Wirtschaftswunder-Deutschlands, unbehelligt von jeder Wirklichkeit in Gestalt von Klimawandel, Globalisierung und EU. Aber sie träumen nicht vom Faschismus.
Die rassistischen Eskapaden einiger prominenter Parteibarden wie Björn Höcke haben der Partei daher langfristig mehr genutzt als geschadet. Da sich die linke Gegnerschaft samt Medien und Parteien an den rassistischen Äußerungen Einzelner abarbeitet und diese zum Anlass nimmt, die AfD als Ganzes zu faschistoisieren, kann sich die AfD mühelos von jenem Zungenschlag und den entsprechenden Personen distanzieren und unbehelligt ihre eigentliche, antiliberale Agenda vorantreiben. Denn wenn der Vorwurf Faschismus lautet, die Realität aber nur Ressentiments beinhaltet, stehen die Empörten allzu schnell wehrlos vor einem Tiger, den sie zu einem Drachen überhöht haben und der jetzt wie ein Kätzchen miaut.
An diesem Abend in Vaihingen führt die Hysterie zu noch absurderem Verhalten. „Kein Fußbreit den Faschisten“ klingt immer so heldenhaft, weil wir mit Faschismus die SA verbinden. Hier aber werfen Studenten mit Eiern nach Rentner-Ehepaaren.
Im Innern setzt der Bundestagsabgeordnete Dr-Ing. Dirk Spaniel zur ersten Rede des Abends an. Es geht um Verkehrspolitik, Diesel, Feinstaub – Stuttgarter Kernthemen. Der Subtext jeder Rede dieses Abends aber lautet: Die Apokalypse droht. Im Fall der Verkehrspolitik heißt das „Deindustrialisierung“, Absterben des Sozialstaats, des Reichtums, denn wer nicht die AfD wählt, wählt die Fahrverbote, wählt den „Abbau des Individualverkehrs“, die Fremdbestimmung durch „grüne Ideologen“. Lange genug habe man sich von denen auf der Nase herumtanzen lassen, beendet Herr Spaniel seine Hiobsbotschaft. Der Saal tobt zum ersten Mal. Das Ressentiment gegen eine diffuse Elite, die sich moralisch überhöht, wabert durch die Luft.
Dieses Ressentiment allein erklärt jedoch keine zweistelligen Wahlergebnisse. Tatsächlich ist es Deutsche Angst, die hier beschworen wird. Die Grünen oder die Union verfahren freilich nicht anders, aber die Angst, von der die AfD spricht, ist konkreter. Der sprichwörtliche kleine Mann fühlt sie in seinem Portemonnaie, in seinem sich verändernden Heimatstädtchen, in seinen durchwachten Nächten, wenn die Tochter in der Mehrzweckhalle feiert und noch nicht zurück ist. Die AfD sagt, es wird noch richtig schlimm und zeigt mit dem Finger auf die etablierten Parteien. Die Grünen sagen, Menschen ertrinken irgendwo zwischen Afrika und Ballermann und zeigen auf die Verhältnisse und weil doppelt besser hält auch gleich auf die ohne jegliche Regierungsverantwortung dastehende AfD.
So wahnhaft deren Untergangsfantasien aber auch sein mögen, in Punkto Realitätsbezug übertrumpfen sie die linken Anliegen des 21. Jahrhunderts mit Leichtigkeit, das heißt: Der kleine Mann hat bei der AfD etwas zu befürchten, bei den Grünen und allen anderen Parteien der Mitte hat er nichts zu hoffen. Die sich moralisch überlegen wähnende Elite, die Bessermenschen, wie sie eigentlich heißen müssten, weil sie ja nicht einfach gut sein wollen, sondern ganz kapitalistisch geprägt eben besser als der Rest, haben ihn aufgegeben. Vor allem den kleinen Mann des Ostens, wo längst nicht nur die Städte schrumpfen.
Unterbrochen von einer Computerstimme, die durch die Lautsprecheranlange wiederholt die Fehlermeldung „Code 500“ in den Saal krächzt, setzt Spaniel seine Rede fort. Die Lösung für Stuttgart seien nicht Fahrverbote, sondern eine Verlagerung der Messstationen an weniger neuralgische Punkte, zum Beispiel in den Schlosspark. Das klingt so absurd, dass ich mehrmals meine mich zu verhören, aber Spaniel wiederholt es. Der Mann ist kein kleines Licht der Partei. Er sitzt im Bundestag und gilt als ihr Verkehrsexperte. Lösungen hat die AfD also auch nicht. Aber sie gibt sich den Anschein, als einzige Partei die Probleme zu erkennen. Das scheint den Leuten zu genügen. Genauer gesagt scheint es auch niemandem im Saal wirklich zu interessieren, was die AfD konkret machen will, sondern nur was sie nicht machen will: mitmachen.
Draußen vor der Tür schreien erneut Menschen auf, diesmal nicht aus Hass, sondern vor Panik. Jemand hat wohl versucht das Gebäude zu stürmen, jedenfalls löst die Polizei die Gegendemonstration jetzt auf. Als wir die Veranstaltung später verlassen, zeugt nichts mehr von dem energischen Protest. Auch bei den Besuchern hat dieser nichts bewirkt, im Gegenteil. Wiederholt höre ich, wie verblendet die Demonstranten doch seien. Beinahe stolz präsentiert man die Flecken auf dem T-Shirt, erzählt sich gegenseitig vom Spießrutenlauf. Eier als Bindungsmittel.
Der zweite Redner, Marc Bernhard, ebenfalls Mitglied der Bundestagsfraktion, spricht über vieles, zum ersten Mal fallen auch die Worte „Flüchtlinge“ und „Grenzen“. Doch der Kampf der AfD hat sich von den äußeren Zonen des Staates längst ins Innere verlagert. Wohnungsnot, Kriminalität – es sind die vermeintlichen Folgen der Flüchtlingspolitik, welche die Partei jetzt beschäftigen. Das macht sie unabhängig von den sinkenden Zahlen des Zustroms, es geht jetzt um die, die schon da sind.
Herr Bernhard tischt Schauermärchen von einer aus ihrer Wohnung geworfenen Rentnerin auf, die Flüchtlingen Platz machen musste. Andere Gründe für die Wohnungsnot sieht er nicht, zumindest spricht er nicht davon. Ein Zuhörer ruft „Volksverräter!“, Bernhard beschwichtigt, weicht aus. Den Jargon mancher Dresdner Straßen hält sich die Partei mittlerweile lieber vom Leib.
Bernhard kommt auf die Energiewende zu sprechen und beschwört das nächste Untergangsszenario. In einigen Monaten schon drohen Blackouts, also flächendeckende Stromausfälle, weil irgendwas mit der Windkraft nicht hinhaut. Krankenhäuser hätten zwar Notstromaggregate, aber die reichen nur für ein bis zwei Tage. Und dann?
Lieber schnell die AfD gewählt, bevor man mit Oberschenkelhalsbruch im stockfinsteren OP-Saal verblutet. Doch Bernhard hat euch Erfreuliches zu berichten: Die Kriminalitätsrate sinkt. Allerdings „wahrscheinlich nur, weil die Frauen abends gar nicht mehr joggen gehen.“ Er meint das so.
„Rassisten raus aus Vaihingen“ hat jemand mit roter Farbe an eine Wand im Treppenhaus gesprüht. Was die beiden Lager eint, ist der Hass, vor allem aber die Angst, die dahinter liegt. AfD-Wähler haben Angst vor der schönen neuen Welt, die sie überflüssig macht. Die Bessermenschen haben Angst vor dem Faschismus. Auf beiden Seiten haben sich die Menschen also in die Irrationalität geflüchtet, weil die rationale Sicht der Dinge sie überfordert. Was die Lager trennt, ist ihre stille Reserve.
Den Linken mangelt es an einer Utopie, sie verfügen über keine Antwort auf die Fragen der neuen Welt. Auch deshalb haben sie den kleinen Mann wohl vergessen – sein bemitleidenswerter Anblick ist nur schwer zu ertragen für diejenigen, die sich soziale Verantwortung auf die Fahne schreiben. Die Rechten hingegen tragen stets eine Utopie in ihrer Hosentasche mit sich herum: Sie verweisen so simpel wie konkret auf das Vergangene, auf die gute alte Zeit.
Insofern ist die Angst der Linken dann doch teilweise berechtigt: Den Kampf um die kleinbürgerliche Seele werden sie so nicht gewinnen können. Damit diese ihnen den Affront vergibt, die Moral schon lange über das Fressen gestellt zu haben, braucht es mehr als den nur noch vehementeren Rekurs auf eben jene Humanität. Die Leute im Saal nehmen offenbar sogar das Fressen und Gefressen werden billigend in Kauf, für das die AfD ebenso steht wie die übrigen Parteien, solange sie nur nicht länger mit den immer gleichen Floskeln sediert werden. „Alternativlosigkeit“ oder „Moralische Pflicht“ werden hier längst als Beruhigungspillen zum Zweck der Beißhemmung wahrgenommen. Der AfD-Wähler aber will beißen dürfen, denn er fürchtet um sein Fressen. Und denen, die selbst mehr als genug zu Fressen haben, aber von Maulkörben reden, will er erst recht die Zähne zeigen.
Alice Weidel berichtet als letzte Rednerin über die Arbeit der AfD im Bundestag. Von ihrem Beitrag bleibt wenig Greifbares hängen. Vorgestellt wird sie als „vielleicht kommende Bundeskanzlerin“ – das klingt aberwitzig, aber Weidel lächelt den Satz und den dazugehörigen Applaus mit einer solchen gespielten Bescheidenheit weg, dass ich kurz das Gefühl bekomme, insgeheim hält sie das für möglich. Anschließend beginnt der Bürgerdialog. Warum es keinen rechten öffentlich-rechtlichen Fernsehsender gebe, fragt einer. Aber niemand fragt nach einem Schießbefehl, nach Lagern oder einem Dönerbuden-Boykott. Fast bin ich enttäuscht.
Wir verlassen den Saal. Draußen herrscht Leere, selbst die Polizisten haben sich größtenteils zurückgezogen. „Mit Rechten reden“ lautet der Talkshow- und Leitartikel-Slogan, der stets mit einem Fragezeichen versehen wird, als ginge es darum, ob man ohne Hose aus dem Haus gehen kann. Heute habe ich Rechten zugehört. Sie machen viele Ausrufezeichen, wenn sie sprechen, obwohl auch sie keine Antworten haben. Aber das wirkt. Denn Fragezeichen haben sich die Anwesenden lange genug an die Satzenden der etablierten Politiker gewünscht, etwa in Sätzen der Art: „Wie geht es euch?“. Wenn man ihnen so zuhört, den Rechten und ihren Anhängern, wird deutlich, dass es fürs miteinander Reden bald zu spät sein könnte.
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