DFB-Elf in der Krise: Die Mär von der mangelnden Chancenverwertung

Chancenverwertung

Die deutsche Nationalmannschaft hadert mit sich selbst. Neuerdings spielt man gern mal auf ein 0:0 mit Fünferkette. Wiederholt bemüht man den Mythos der Effektivität: Mit einer besseren Chancenverwertung hätte man die Niederlande geschlagen, anstatt 0:3 unterzugehen. Aber das ist leider gelogen.

Die FIFA hat kürzlich einen „Technischen Bericht“ veröffentlicht, der die vergangene WM aus taktischer Sicht zusammenfasst. Zu den beteiligten Autoren zählen Leute wie der Niederländer Marco van Basten oder der brasilianische Weltmeistertrainer von 1994 Carlos Alberto Parreira.

Darin findet man allerlei Erstaunliches sowie längst Vermutetes bezüglich der Trends dieser WM. Eine wesentliche Entwicklung ist demnach die gesteigerte defensive Kompaktheit der Teams. Die zehn Feldspieler stehen in der Verteidigung so dicht beieinander, dass sie vor allem vor und neben sich viel Wiese preisgeben, um den Raum vor dem eigenen Tor zu verdichten. Von den circa 3550 m², die die eigene Hälfte eines Fußballfeldes bietet, besetzen sie so mitunter nur 230 m². Modernes Verteidigen gelingt also auch im Loft.

Exemplarisch:

Dank der Abseitsregel kann die verteidigende Mannschaft den Raum zwischen ihrem letzten Mann und dem Tor ebenfalls verteidigen, sofern sie auf einer Linie agiert. Im Beispiel aus obigem Video kommen daher nochmals rund 1.000 m² verteidigter Raum hinzu – der allerdings nicht vor von jenseits der Abseitlinie einsprintenden Stürmern geschützt ist.

Nette Zahlenspielereien mag man denken, aber genau hier beginnt die Misere der deutschen Nationalelf. Denn aufgrund des ballbesitzgeprägten Spielstils stehen die deutschen Innenverteidiger als letzte Linie oft weit vorne im Feld, etwa um den Mittelkreis herum. Damit verdichtet das DFB-Team den Raum in der gegnerischen Hälfte, wodurch es bei eigenen Ballverlusten den Ball schnell bereits dort zurückerobern kann – theoretisch. Wie jede Strategie geht auch diese mit einem in Kauf genommenen Risiko einher: Durch die hohe Positionierung (im Schnitt 41 Meter vor dem eigenen Tor) klafft hinter den Innenverteidigern Mats Hummels und Jerôme Boateng ein leerer Raum von über 2500 m².

Neuer mimt nicht länger den Libero

Für dieses Grün war früher gern Manuel Neuer zuständig. Exemplarisch steht hierfür immer noch die Partie gegen Algerien während der WM 2014. Die Algerier überspielten bei Ballgewinn die hochstehende deutsche Verteidigung etliche Mäle mit langen Bällen. Nur dem revolutionären Torwartspiel Neuers ist es zu verdanken, dass der spätere Weltmeister nicht schon nach diesem Achtelfinale die Heimreise antreten musste. Vier Jahre später aber kam Neuer kurz vor dem Turnier in Russland aus einer einjährigen Verletzungspause zurück. Quasi ohne Spielpraxis startete er in die Vorbereitung. Neuer stand in der Folge zwar immer noch höher als die meisten seiner Kollegen, aber die riskanten Sprints in Richtung Mittelkreis unterließ er. Für die Verteidigung des Raumes hinter ihnen waren daher wieder die Innenverteidiger zuständig. Bei funktionierendem Gegenpressing wäre dies zwar kein schwerwiegendes Problem.

Ein weit aufgefächertes deutsches Team, bei Ballbesitz mit stolzen 965 m² an besetztem Raum die gesamte Breite des Platzes nutzend (Frankreich: 767 m²), konnte das angestrebte Gegenpressing nach Ballverlust allerdings nicht in die Tat umsetzen. Zwar zog die Mannschaft sich ohne Ballbesitz zusammen. Mit durchschnittlich 679 m² erreichte man allerdings nie die erforderliche Kompaktheit (Frankreich 537 m²). Bei Ballverlust war der Raum vor den Innenverteidigern also nicht dicht genug und der Raum hinter ihnen lud zu tiefen Läufen und Pässen ein.

Khedira als Falsche 6

Eine Besonderheit der Löwschen Taktik sollte sich dabei als verheerend herausstellen. Während Khedira als einer der beiden nominellen Sechser weit nach vorne schob, ließ sich sein eigentlicher Nebenmann Toni Kroos bei Ballbesitz auf Höhe der Innenverteidiger falllen. Dieses „Abkippen“ des Sechsers gehört heutzutage zum Einmaleins des Trainer-Repertoires. In Kombination mit dem weiten Aufrücken des zweiten Sechsers Khedira gab Löw jedoch das zentrale Mittelfeld preis. Abgesehen von der fehlenden Verbindung zwischen Defensive und Offensive im Spielaufbau zeigte sich das vor allem bei Ballverlust.

In der 5. Spielminute gegen Mexiko ergab sich beispielsweise folgendes Bild:

Chancenverwertung

Die Grundordnung ist zu einem flachen 3-6-1 geworden. Die Außenverteidiger stehen hoch und halten die Linie, Khedira ist längst aufgerückt. Dadurch fehlt in der Zentrale jegliche Anspielstation. Die offensiven Mittelfeldspieler halten sich in den Zwischenlinienräumen auf – essentiell zum Knacken massierter Abwehrriegel. Doch sie sind vom Rest des Teams isoliert. Boateng hat den Ball, aber kaum konstruktive Anspielstationen. Das gelbe Rechteckt markiert den durch Löws Vorgabe enstehenden leeren Raum, der bei Kontern gefährlich werden kann. 30 Minuten später spielen die Mexikaner, nach Ballverlust Khediras, durch genau diesen Raum den entscheidenden Pass, der das 0:1 einleitet.

Chancen kreieren, trotzdem verlieren?

Das Spiel der deutschen Elf hat also durchaus andere Probleme als die mangelnde Chancenverwertung. Nach der WM war Löw bemüht, die Defensive zu stärken und kam so gegen Frankreich zu einem respektablen 0:0, ehe ein 2:1-Erfolg gegen Peru die alte Anfälligkeit erneut offenbarte. Gegen die Niederlande verlor man 0:3 und Mats Hummels sah ein gutes Spiel seiner Mannschaft, die sich wenig vorzuwerfen habe. Nur die Tore, die müsse man eben machen.

Glücklicherweise gibt es seit einigen Jahren eine neue Statistik, die dieser Fußball(er)phrase auf den Zahn fühlt. Im Mainstream leider noch weitestgehend ignoriert (während das tolle „Packing“, über das heute niemand mehr spricht, damals direkt seinen Weg in die öffentlich-rechtliche Berichterstattung fand) mausern sich die „Expected Goals“, kurz „xG“, zum praktischen Gradmesser für die Qualität der erspielten Torchancen.

Aus verschiedenen Parametern wie Entfernung zum Tor, Schusswinkel, Art der Vorlage, Anzahl der Verteidiger vorm Schützen (nicht aber: Schütze), errechnet eine Formel die Wahrscheinlichkeit eines Torerfolgs für die jeweilige Abschlusssituation. Addiert man diese Wahrscheinlichkeiten, ergibt sich so nach 90 Minuten eine Zahl, die beschreibt, wieviel Tore die Mannschaft im Schnitt eigentlich hätte erzielen können. Für ein ballbesitzorientiertes Team, dass nicht von krassen individuellen Fehlern profitiert hat, treffen die Expected Goals also eine Aussage über die Güte der eigenen Spielanlage.

Expected Goals geben Aufschluss

Hat ein Team keinen einzigen Abschluss, liegen die Expected Goals bei 0.00. Jeder Abschluss, sei er noch so aussichtslos, lässt den Wert anwachsen, denn natürlich besitzt jeder Schuss das Potential zu einem Tor zu führen. Für gewöhnlich sind das bei aussichtslosen Versuchen 0.02 Pünktchen. Ein Elfmeter schlägt hingegen mit um die 0.7 Punkten zu Buche, da etwa 30% aller Elfmeter vergeben werden. Der tatsächliche Erfolg eines Abschlusses beeinflusst den xG-Wert nicht.

Der Seitfallzieher außerhalb des 16ers von Ibrahimovic beim legendären 4:4 zwischen Schweden und Deutschland erhöht den xG-Wert also nur geringfügig, obwohl er zu einem spektakulären Tor führte. Die Wahrscheinlichkeit, aus dieser Situation heraus ein Tor zu erzielen, ist schlicht zu gering. Auch ein Lattentreffer beeinflusst die Expected Goals nicht unbedingt dramatisch – wenn der Schuss verdeckt aus 35 Metern abgegeben wurde, war es eben einfach keine besonders gute Abschlusssituation. Dementsprechend eignet sich der individuelle xG-Wert dafür, besonders abschlussstarke Spieler zu identifizieren. Mats Hummels hätte bei der WM in Russland beispielsweise laut seines xG-Wertes von 1.16 gut und gerne zumindest ein Tor erzielen können – aber er ist eben kein Stürmer (wenngleich die Samplesize natürlich mit drei Spielen viel zu gering ist).

Was ist also dran an der von Hummels, aber auch von Experten und Löw selbst bemühten Analyse, das deutsche Spiel kranke in erster Linie an der mangelnden Chancenverwertung?

Beim 0:3 gegen die Niederland erspielte sich das deutsche Team xG von 1.1 gegenüber 1.98 der Oranje-Elf. Die Niederlage war also wahrscheinlich, die vermeintlichen klaren Chancen für einen Sieg hat es nicht gegeben. Anzumerken ist hierbei, dass die DFB-Elf in der Schlussphase die Defensivarbeit vernachlässigte – andernfalls hätte die Oranje wohl einen geringeren Wert erreicht. Allerdings schlägt hier auch eine Schwäche der Expected Goals zu Buche: Die fahrlässig vergebenen Konterchancen der Niederlande, die nicht in einer guten oder überhaupt keiner Abschlusssituation mündeten, finden keine Berücksichtigung.

Gegen Frankreich erspielte sich Löws Mannschaft ein 0.7 : 0.75, ohne den Elfmeter für Frankreich zu berücksichtigen. Die Defensivtaktik zeigte also Wirkung, mit ordentlich Glück kann man so ein Spiel auch mal gewinnen. Zukunftsfähig ist ein solches Ergebnis allerdings nicht.

Keine einzige herausgespielte Großchance

Beim WM-Desaster erspielte sich Deutschland in der Tat insgesamt mehr gute Chancen, als das Team in Tore ummünzen konnte. Gegen Mexiko schlagen die Expected Goals mit 1.23 vs. 1.19 sogar minimal in die deutsche Richtung aus. Allerdings gilt auch hier wieder, dass die etlichen schlecht zu Ende gespielten Kontergelegenheiten der Mexikaner in der Statistik fehlen. Gegen Schweden zeigt sich ein ähnliches Bild: 1.39 vs. 1.23 xG. Von klarer Dominanz und reihenweise vergebenen Großchancen fehlt jedoch jede Spur. Gegen Südkorea hätte die DFB-Elf mit einem xG von 2.5 ein oder zwei Tore schießen müssen. Die 1.7 xG der Südkoreaner ergeben sich derweil fast ausschließlich aus der wilden Schlussphase.

Während das deutsche Team im Schnitt 24 Schüsse pro Spiel abgab und damit den höchsten Wert aller WM-Teilnehmer erreichte, benötigte es 36 Schüsse pro Treffer – der WM-Schnitt liegt bei 9,8. In Kombination mit der bescheidenen Anzahl an Expected Goals kann diese Statistik aber nicht länger als Indiz für eine schlechte Chancenverwertung herangezogen werden. Vielmehr waren die erspielten Chancen von schlechter Qualität. Abschlüsse mit einem xG-Wert von 0.5 oder mehr – also wirkliche Hochkaräter – erspielte sich Deutschland überhaupt nicht. Spanien erreichte mit lediglich einem Spiel mehr ganze sechs solcher Chancen.

Die defensive Anfälligkeit, die fehlende Kompaktheit und die seltsame Idee Löws, seine beiden Sechser möglichst weit voneinander entfernt zu halten, muss man als in Kauf genommene und beabsichtigte Maßnahmen interpretieren, um das große Ziel zu erreichen: möglichst viele gute Abschlussgelegenheiten herauszuspielen. Ebenso muss man aber feststellen, dass dieses Ziel nicht ansatzweise erreicht wurde. Erst recht nicht im Vergleich mit dem dafür eingegangenen Risiko: den fünf Expected Goals bei der WM stehen vier Expected Goals gegen das deutsche Team gegenüber. So gewinnt man keine Titel und nicht mal regelmäßig Spiele. Wenn es im Rückspiel gegen die Niederlande für Deutschland um den Klassenerhalt geht, muss Löw endlich eine bessere Lösung präsentieren.