Die ideologische Bundesrepublik

Ideologie

2016 wurde viel über Populismus und Hysterie diskutiert, über Phobien und die stattdessen nötige Besonnenheit. Es war ein aufgeregtes Jahr, dessen Ereignisse und Debatten die Republik politisch gespalten haben. Der nüchterne Beobachter kommt nicht umhin, sich zu fragen, woher all das Schwarzweiß-Denken kommen soll, wenn nicht aus den Köpfen der Menschen. Doch genau das verneint die politische Elite. Das genannte Arsenal der denunzierenden Begriffe zielt gerade darauf ab, Argumente, Fragen und Sorgen als irrational ab zu tun. Dabei verschleiern sie, als vermeintliche Vertreter der Gegenseite, die eigene Irrationalität. Denn wo Hass und Angst Rassismus schüren, ignoriert ideologische Verblendung reale Probleme.

Natürlich ist nicht jeder Flüchtling ein Terrorist. Natürlich haben wir eine moralische Pflicht, Kriegsopfern Zuflucht zu gewähren. Aber natürlich muss dies in geordneten Bahnen geschehen. Und natürlich haben wir bereits Probleme mit Parallelgesellschaften, die unsere bisherige Integrationspolitik in Frage stellen. Parteien wie die AfD haben naturgemäß kein Interesse an derlei Differenzierung, leben sie doch vom Gefühl des Staatsversagens und des nicht respektierten Willen des Volkes (Forderungen nach mehr direkter Demokratie beherbergen immer auch das Versprechen, dass es dann so gemacht wird, wie wir das wollen). Erschütternd ist es jedoch, wenn eine etablierte demokratische Partei wie die Grünen sich ebenfalls der nötigen kritischen Diskussion verschließt. Allein die Tatsache, dass die Bundesvorsitzende Peters einen Polizeieinsatz am Ort der massenhaften Silvesterverbrechen gegen eben jene mutmaßliche Tätergruppe als rassistisch kritisiert, zeigt, wie sehr es um die eigene Ideologie und damit um die eigene Klientel geht. Und wie wenig um überzeugende politische Lösungen.

Natürlich war der Nafri-Tweet unglücklich. Doch wenn wir fünf Tage später immer noch über Wörter diskutieren, anstatt über die Tatsache, dass es in NRW offenbar eine über 1.000 Mann starke Intensivtäterszene nordafrikanischer Herkunft gibt und wie dies sein kann, dann sitzt die deutsche Öffentlichkeit mit breitem Hintern in einer ideologischen Blase. Denn auch die Kritik an der Kritik nimmt sich nicht dem eigentlichen Problem an. Stattdessen geht es um das Elend der Political Correctness oder um die Frage, ob effektive Polizeiarbeit überhaupt ohne racial profiling auskommt.

Ideologie sticht politische Lösungen

Auf der einen Seite steht also die Ideologie, auf der anderen zwar die Kritik an dieser, aber nur motiviert durch die implizite Verteidigung der eigenen Ideologie. So ist es nicht verwunderlich, dass Peters in ihrem Zurückruder-Post (die AfD lässt grüßen) unter anderem ernsthaft davon spricht, dass linke Politik immer auch der Polizei auf die Finger schaut (Zitat Ende). Als linke Politikerin sei es also schlicht ihre Aufgabe, Polizeiarbeit grundsätzlich kritisch gegenüber zu stehen. Da siegt die Ideologie über das Denken.

Wenn R2G in Berlin Abschiebungen als „ultima ratio“ auf die letzte Seite ihres Maßnahmenkatalogs verbannt, wenn die Grünen im Bundesrat am liebsten keinen Staat außer Deutschland als sicheres Herkunftsland einstufen möchten (gleichwohl Amis Amris Abschiebung nicht daran gescheitert ist) und die CSU ein Burka-Verbot forciert, das exakt null Probleme löst, dann muss man sich fragen, wann dieses Land so denkfaul geworden ist. Wann der alte marxistische Gegensatz von links und rechts die Oberhand gewonnen hat über den Gegensatz von wahr und falsch.

Natürlich betreiben die genannten Parteien Klientelpolitik. Natürlich kann es sein, dass Cem Özdemir nicht wirklich glaubt, das seine Partei die einzig richtige Politik betreibt. Und vielleicht weiß sogar Horst Seehofer, dass eine Obergrenze nur wahlpolitischen, nicht aber praktischen Erfolg hätte. Dennoch wird die Politik Deutschlands zwar nicht von der Irrationalität der Hysterie fehlgeleitet, aber von der weitaus schlimmeren, weil nicht von selbst abflauenden, Irrationalität der Ideologien.

Schwache Volksparteien lassen sich treiben

Die Macht der Ideologien korreliert mit der Schwäche der Volksparteien. Deren reale Stimmverluste sind nur Ausdruck einer tiefergehenden Depression von Union und SPD. Seit Schröder steht die SPD ebenso wenig für soziale Politik wie die CDU seit Merkel für das konservative Gegenstück. Merkels re-agierender Politikstil tut sein Übriges. Das Verhältniswahlrecht verschärft dieses Elend zusätzlich, weil der resultierende Parteienpluralismus das strafende Abwählen einer Partei verhindert. Nicht umsonst ist die SPD von über 30 auf 20 Prozent geschrumpft, aber nach wie vor Regierungspartei. SPD und CDU hätten innerparteiliche Reformen bitter nötig, sehen sich angesichts ihres Machterhalts jedoch nicht dazu gezwungen. In dieses Vakuum des ergrauten Verwaltens stößt das nicht-bürgerliche Linke und Rechte mit seinen Sehnsüchten und Glaubenssätzen.

Die Tatsache, dass wir seit über 100 Jahren die selben beiden Volksparteien hofieren, speist sich wiederum aus der Schwäche der kleinen Parteien. Denn diese haben nie versucht, Politik für die breite Masse zu machen. Stets sind sie ihrer Klientel und damit ihrer Ideologie, ihrer engen Weltsicht, treu geblieben. In der Absicht, nicht sich, sondern den Wähler zu verändern. Es ist also nicht unbedingt zu erwarten, dass die Grünen, die FDP oder gar die Linke sich von ihrer Ideologie lösen werden, um rationale Politik zu betreiben, die dabei nicht auf Visionen verzichtet. Die großen Parteien wiederum lassen sich in ihrer Orientierungslosigkeit von den konkurrienden Ideologien treiben.

Ein Teil des Erfolgs der AfD hängt mit genau dieser Ideologisierung der Politik zusammen: Fernab der Realität zu debattieren, schließt die Distanz zum Bürger mit ein. Erst diese Distanz jedoch ermöglicht es der AfD, sich volksnah zu geben. Auch wenn dahinter ebenfalls nur Ideologie steckt. Und das Warten auf eine politische Alternative solange andauert, bis wir wieder Meinungen austauschen anstatt Ansichten.