Ein Portrait: Den Libero kannte ich als Kind der 90er nur aus Erzählungen. Beckenbauer habe ich nie spielen sehen. Meine eindringlichste Pseudo-Erinnerung an ihn sind die Bilder seines einsamen Spaziergangs auf dem Rasen des römischen Olympiastadions nach dem WM-Sieg 1990. Da war er schon Teamchef.
Auf dem Bolzplatz war der Libero für uns eine Art letzter Mann vor dem Torwart. Wer rief „Ich bin Libero!“ gab damit zu verstehen, dass er als Absicherung hinten bleiben werde, komme was wolle.
Als Lothar Matthäus Ende der Neunziger sein Comeback in der Nationalmannschaft feierte und diesen einen Pass schlug, vom Mittelkreis bis an den Strafraum der Nordiren, und Christian Ziege ein Tor schoss, erahnte ich zum ersten Mal die Größe, die ein Verteidiger haben könnte. Ich besaß nun eine vage Vorstellung davon, was Beckenbauer den Beinamen „Lichtgestalt“ verschafft haben musste.
Doch zu jener Zeit hatte Ralf Rangnick bereits im Aktuellen Sportstudio über die Viererkette doziert und der Libero verschwand in den Geschichtsbüchern. Die deutschen Verteidiger meiner Kindheit hießen Linke, Ramelow und Wörns. Verteidiger sein bedeutete nur noch, zu verteidigen. Die Grätsche verdrängte den spielentscheidenden Pass. Die Lichtgestalt am deutschen Fußballhimmel hieß fortan Oliver Kahn, ein Ungetüm zwischen den Pfosten, dessen wesentliches Merkmal es war, besser als alle Anderen darin zu sein, Tore zu verhindern.
Zur selben Zeit tritt Jerôme Boateng im Alter von zehn Jahren Tennis Borussia Berlin bei. Während er schließlich bei der Hertha zum Bundesliga-Profi reift, entwickelt sich der Fußball weiter. Die Viererkette bleibt, aber die Räume auf dem Rasen werden enger. Mannschaften stehen kompakter, greifen früher an, spielen Angriffspressing, damals noch Forechecking genannt. Die zentralen Mittelfeldspieler können das Spiel nicht mehr ungestört das aufbauen.
Kahn bekommt diese Entwicklung als einer der Ersten zu spüren: Beim Sommermärchen 2006 sitzt er auf der Bank, für ihn spielt Jens Lehmann, Kategorie „mitspielender Torwart“. Wenig später sind es Verteidiger der Marke Wörns, die ihren Platz räumen müssen für die pressingresistentere Konkurrenz.
Boateng wird Pressingresistenz neu definieren. Die Lässigkeit, mit der er verteidigt und das Spiel aufbaut, legen ihm viele als Schwäche aus. Als Verteidiger darf man die schweren Dinge nicht leicht aussehen lassen, nicht in Deutschland. Hin und wieder unterlaufen ihm tatsächlich Fehler, die grotesk wirken. Joachim Löw nutzt Boateng lange Zeit als Notnagel für die Außenverteidigung. Hier wiegen diese Fehler nicht so schwer und außerdem ist Boateng schnell genug, um Flügelstürmer zu verteidigen.
Deshalb wird er oft für seine Athletik gelobt und meist darauf reduziert. Die 1,92 m gepaart mit circa 90 Kilo Kampfgewicht machen Boateng zu einer imposanten Erscheinung. Doch wer ihn reden hört, merkt schnell, dass sich unter dem gestählten Körper ein sensibler Mann versteckt. Boatengs Fußgelenk verrät es dem unvoreingenommenen Beobachter auch ohne Worte sofort. Ob links oder rechts: Boateng ist anders als seine Kollegen – der Ball ist sein Freund.
Doch erst in der Zentrale kommt Boatengs Gabe wirklich zur Geltung. Als die Bayern 2013 die Champions League gewinnen, ist es Boateng, der den langen Ball aus der eigenen Hälfte an die Strafraumkante der Dortmunder spielt, den Ribery mit dem Knie annimmt und irgendwie auf den einstartenden Robben weiterleitet. 2:1, die Bayern sind Weltmeister.
Boatengs Bälle sind nicht gechippt, sie hängen nicht eine halbe Ewigkeit in der Luft. Er jagt sie mit einer Geschwindigkeit quer über den Platz in die Füße seiner Mitspieler, die das Spiel entscheidend verändert.
Auch Löw setzt Boateng fortan in der Zentrale ein. Vor der WM in Brasilien kopiert Löw jedoch die Idee Guardiolas, Philipp Lahm im Mittelfeld aufzustellen. Anders als der Bayern-Trainer hat Löw keine anderen Außenverteidiger auf internationalem Niveau. So geht Boateng auch in sein drittes großes Turnier als Aushilfskraft.
Erst eine Erkältung Hummels und die Verletzung Mustafis spülen Boateng während der K.O.-Spiele zurück in die Zentrale. Es folgen drei Spiele, die ihn unsterblich machen.
Der größte Fußballer meiner Generation, Lionel Messi, schickt sich damals an, seine Karriere zu krönen. Mit Argentinien möchte er endlich den Makel ablegen, ohne das katalanische Starensemble um Xavi und Iniesta nichts gewinnen zu können. An Boateng prallt dieses Wunderkind ab wie Harry Potter am verhexten Gleis 9 ¾.
Die Bilder des blutenden Bastian Schweinsteiger und des erlösenden Tores von Mario Götze haben sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Von Boateng gibt es keine solchen Bilder. Er hat nicht zugelassen, dass die Argentinier welche produzieren konnten. Boateng ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt und hat alles gewonnen.
Auf den Zenit seiner Leistungsfähigkeit gelangt Boateng aber erst in den Jahren danach. In der Saison 2015/2016 entscheidet er mit seinen Pässen auf Müller beim 5:1 gegen den BVB am 8. Spieltag die deutsche Meisterschaft. Im selben Jahr führt er das DFB-Team ohne Gegentor aus dem Spiel heraus bis ins Halbfinale der Europameisterschaft.
In dieser Zeit hat Boateng eine Hand an der Kapitänsbinde der Nationalelf. Als erster dunkelhäutiger Spieler in der Geschichte des DFB wäre es die Krönung seiner Karriere. Auf dem Platz ist er es de facto ohnehin. Die großen Schlachten des FC Bayern, vor allem die Aufholjagden, nehmen ihren Ausgang im Fußgelenk des Weltmeisters.
Schwere Muskelverletzungen verhindern, dass Boateng eine Ära prägen kann. Der Mann, der Anlauf brauchte, um sich auf seiner Position durchzusetzen, kommt nicht mehr so recht in Tritt. Trotzdem hält Löw an ihm fest, als die Mission Titelverteidigung ansteht. Ohne Spielpraxis stemmt Boateng sich gegen das deutsche WM-Desaster. Im Spiel gegen Schweden ist es das alte Bild: Er treibt die Mannschaft nach vorne, übernimmt den Spielaufbau. Kurz vor Schluss muss er mit einer Gelb-Roten Karte vom Feld. Das dies sein letztes Turnierspiel sein würde, glaubt in dem Moment niemand.
Heute Abend wird sich Boateng vielleicht wieder in eine dieser Schlachten werfen dürfen, in denen seine Mitspieler ihm den Ball geben, wenn alle Passoptionen zugestellt scheinen. Und vielleicht können wir Zuschauer dann diese seltsamen Momente der Hoffnung im Fußball erleben, die nur entstehen, wenn ein Spieler den Ball hat, der gerne Unvorhersehbares tut. Die Messis und Sanés dieser Welt. Und Jerôme Boateng.
Vielleicht spielt aber auch Niklas Süle. Den findet auch Joachim Löw ganz gut.
Bildquelle: Mustafa Kücük von Gruenwaldt
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