Religionsfreiheit ist kein Super-Grundrecht

Corona Kirchen

Mindestens 60 Corona-Infizierte nach zwei Gottestdiensten in einer Freikirche in Schwennigen Ende Oktober. Falsche und unvollständige Teilnehmerlisten.

Über 200 Infizierte nach einem Gottesdienst in einer Frankfurter Baptisten-Kirche im Mai.

Fast 60 Ansteckungen nach einer Trauerfeier in einer Moschee Mitte Juli in Schwäbisch-Gmünd.

Religiöse Zusammenkünfte wurden nachweislich zu Superspreader-Events, die die Corona-Pandemie entscheidend vorantreiben. Mit den Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung zielt die Bundesregierung auf die Verhinderung genau solcher Events ab: keine Veranstaltungen, keine Konzerte, kein Theater, kein Sport unter einem Dach. Möglichst wenig zwischenmenschlicher Kontakt für längere Zeit auf engem Raum lautet das Credo. Das ist schmerzhaft, aber sinnvoll. Schulen, Kindergarten und Arbeitsplätze sind davon ausgenommen, man versteht, weshalb.

Und Gottesdienste.

Von Yoga- und Fitnessstudios, Restaurants oder Fußballplätzen sind keine Superspreader-Events bekannt. Eine kürzlich erschienene Studie legt das zwar nahe, erschien aber erst nach Beschluss der neuen Maßnahmen. Trotzdem sind sie diese Einrichtungen seit dem 2. November geschlossen. Die Kirchen aber bleiben offen.

Man kann sich darüber freuen: Wenigstens ein Teil der Bevölkerung muss nicht auf seine geliebten Gewohnheiten verzichten. Während Ali und Jonas zuhause verzweifeln, weil sie ihre Körper nicht mehr wie gewohnt stählen können, dürfen Peter und Elisabeth noch dem Pfarrer lauschen. Aber Pandemie-Bekämpfung ist eine ernste Sache. Es geht nicht ums Füreinanderfreuen, es geht ums Füreinanderverzichten.

Kirchgänger sind älter und zahlreich

Ein paar simple Fakten unterstreichen die pandemische Relevanz der Gottesdienste: Der Kirchgänger in Deutschland ist im Schnitt 57 Jahre alt. Rund 10 Millionen Deutsche können als praktizierende Christen oder Muslime bezeichnet werden, was einen regelmäßigen Kirchbesuch einschließt.

Das wirft die Frage auf, weshalb die Grundrechte auf freie Berufsausübung, freie Entfaltung oder die Freiheit der Kunst sich den Maßnahmen der Pandemiebekämpfung beugen müssen, das Recht auf freie Religionsausübung aber nicht.

Angela Merkel nannte dieses bei der Rechtfertigung der beschlossenen Maßnahmen ein „sehr hochstehendes Recht“. Zudem hätten alle Verfassungsjuristen der Regierung mitgeteilt, dass eine Nicht-Schließung von Schulen und Kitas die ungestörte Ausübung der Religionsfreiheit notwendig bedinge.

Das klingt nach Super-Grundrecht. Ein solches Grundrecht gibt es aber nicht, nur die unantastbare Würde des Menschen aus Artikel 1 des Grundgesetzes. Diese ist beispielsweise verletzt, wenn Menschen alleine sterben müssen, weil aufgrund der Hygienevorschriften keine Angehörigen zu ihnen dürfen. Oder wenn in Triage-Situationen anhand externer Parameter über ihr Weiterleben entschieden wird. Auch um die Würde unserer Mitmenschen zu wahren, bleiben wir nun zuhause. Sie wird aber nicht verletzt, wenn einem der geliebte Mannschaftssport für eine Weile verboten wird. Oder das Praktizieren des eigenen Glaubens sich eine Zeit lang auf die eigenen vier Wände beschränken muss.

Alle Bedürfnisse sind legitim, manche legitimer

Wie lautet dann das Argument für das Abhalten von Gottesdiensten und Gruppengebet? Mancherorts ist zu lesen, dass die Ausübung der eigenen Religion den Menschen gerade in diesen schweren Zeiten Trost spende. Demnach ist nicht das Recht auf Religionsfreiheit den anderen Grundrechten überlegen, sondern das Bedürfnis nach Religionsfreiheit ist wichtiger als das Bedürfnis nach Gewichtheben oder kulinarischer Geselligkeit.
Damit maßt sich die Regierung an, zu entscheiden, welche Bedürfnisse der Bürger legitim sind und welche legitimer. Im Jahr 2020 haben längst andere Dinge den Platz eingenommen, den Religion vor 70 Jahren für die meisten Menschen noch inne hatte. Diese Ersatzreligionen mögen für Außenstehende mitunter seltsam anmuten, aber sind letztlich auch nicht seltsamer als vor einem Gekreuzigten aus Holz zu knien: Kunst, Kultur, der eigene Körper, das eigene Vorankommen im Kapitalismus. All diese Dinge sind nun eingeschränkt, ihren Jüngern wird Verzicht auferlegt. Weshalb die Jünger Jesu oder Mohammed in dieser Hinsicht bevorzugt werden, ist nicht ersichtlich. Es ist Willkür.