Die Krise der Linken wird zunehmend mit der Vernachlässigung klassischer wirtschaftspolitischer Themen zugunsten der Identitätspolitik erklärt. Während der einfache Arbeiter seine Interessen früher bei der SPD und links davon vertreten fand, dominieren dort heute Diskussionen über dritte Toiletten und paritätische Wahllisten – so der Tenor. Francis Fukuyama macht die linke Identitätspolitik gar mitverantwortlich für das Erstarken rechter Identitärer.
Diese Argumentation wird heftig kritisiert. Linke Schuld, dass scheint es nicht zu geben. Cornelia Koppetsch, Professorin für Soziologie, sieht in der Identitätspolitik gar eine verborgene Klassenpolitik. Das Erstarken rechter Bewegungen deutet sie mit Verweis auf die prominente Beteiligung von Vertretern des Bürgertums als einen Abwehrkampf der Privilegierten. Doch damit reproduzieren sie und andere die seltsame Blindheit der Linken für die Belange der einheimischen Unterschicht. Weiß, männlich und unterprivilegiert: den Linken zufolge kann das nur der Yeti sein.
Im Kern kreist die Diskussion um die Frage, inwiefern Identitätspolitik noch ökonomische Basisarbeit sein kann oder schon längst bloß den ideellen Überbau (Moral, Gesetze, Politik) betrifft, der im marxschen Verständnis stets nur Produkt der ökonomischen Basis ist. Man erinnert sich dunkel: Die Welt soll nicht anders interpretiert (Arbeit am Überbau), sondern verändert werden (Arbeit an der wirtschaftlichen Basis). Vor dieser marxschen Terminologie muss sich ein Diskurs ehrlich machen, der von Klassen und Partikularinteressen spricht.
Zwar spielt bei jeder identitätspolitischen Bewegung immer auch die Ökonomie eine Rolle. Wenn „schwarze Leben“ von Belang sind, dann auch die materiellen Verhältnisse, in die sie eingebettet sind. Insofern sprießen identitätspolitische Anliegen nicht automatisch im ökonomisch desinteressierten Reich des Hypermoralismus. Doch die Linken müssen sich sehr wohl die Frage gefallen lassen, weshalb diese Identitätsdiskurse so schnell ihrer ökonomischen Dimension beraubt werden. Im konkreten politischen und damit wirtschaftlichen Echo reüssieren diese Anliegen nämlich tatsächlich als Diskussionen über Unisex-Toiletten, Cultural Appropriation (Indianerkostüme an Karneval) oder Vulva-Schönheitsideale.
Nur an konkreter Wirtschafts- und Sozialpolitik aber kann der Wähler und damit auch der einheimische Arbeiter ablesen, wer seinen Interessen noch Relevanz zugesteht. Nicht an der theoretischen Vorstufe oder dem praktischen Geburtsmoment einer sozialen Bewegung. #BlackLivesMatter wird daher als Diskussion über Polizeigewalt verstanden. Als juristisch-politische Frage ist die Bewegung im marxschen Sinne somit längst von der ökonomischen Basis entkoppelt. Deshalb entpuppt sich die linke Identitätspolitik in der Praxis als harmlos: Wem tut es wirklich (materiell, nicht ideell) weh, wenn die dritte Toilette kommt oder Kinder nicht mehr als Winnetou verkleidet zum Karneval gehen? Und wem hilft es?
Fukuyama schlägt als Ausweg aus der Misere eine universelle Identität vor, die alle nur denkbaren Interessen aufgreift und statt gesellschaftlicher Spaltung wieder Einheit schaffen soll. Ein bisschen Utopie, ein bisschen Volksgedanke. Wer den marxschen Klassenkampf ernst nimmt, muss diese Idee jedoch verwerfen: Im Klassenkampf werden naturgemäß Partikularinteressen vertreten und jede allumfassende Identität zwangsläufig unterwandert.
Mit Marx lässt sich das noch konsequenter denken: Jede Art von Politik ist partikular, denn Politik wird immer für jemanden gemacht und damit auch immer gegen jemanden. Politik im Interesse Aller gelingt nur hinter dem rawlsschen Schleier des Nichtwissens, also wenn wir von dem abstrahieren, was wir sind und haben. Dann können wir uns auf Minimalforderungen einigen, auf Gleichheit vor dem Gesetz also oder auf einen rudimentären Sozialstaat. Diesen Schleier gibt es aber nicht. Poltik für Alle ist natürlich dennoch möglich.
Die wesentliche Unterscheidung, die getroffen werden muss, ist daher jene zwischen einer Identitätspolitik, die niemanden etwas kostet und mühelos von Konzernen bejaht und vereinnahmt werden kann, und einer Identitätspolitik, die tatsächlich materielle Forderungen stellt und die ökonomischen Verhältnisse hinterfragt. Beide Formen greifen partikulare Interessen auf, aber nur letztere ist partikular im umfassenderen Sinn, nämlich gegen die materiellen Interessen Anderer gerichtet.
Beispiele für eine solche robuste linke Identitätspolitik sind rar gesät. Das populäre Gender Pay Gap ist mathematisch fragwürdig und die Forderungen nach seiner Beseitigung bleiben merkwürdig indifferent hinsichtlich der Frage, ob hier ein Gleichviel oder doch nur ein Gleichwenig an Arbeitslohn erreicht werden soll. Diskussionen über die unbezahlte Care-Arbeit meist weiblicher Haushaltsmitglieder hingegen berühren das Binnenverhältnis von Familien und Partnerschaften, nicht aber die ökonomischen Gegebenheiten, die Doppelverdiener zum nivellierten Normalfall gemacht haben, an denen Haushalt, Kindererziehung und Karriere jeweils im vollen Umfang hängenbleiben.
Selbst die linke Migrationspolitik offener Grenzen unterläuft noch den Anspruch einer robusten Identitätspolitik. Denn die Einwanderer aus dem Süden erwartet hier in den meisten Fällen physische Sicherheit und Ausbeutung. Das Paradies Europa entpuppt sich als Fantasie. Doch für die Linken ist, so muss man ihre Konzentration darauf verstehen, mit der Ankunft und der Sicherung des Asylstatus bereits alles Nötige getan – an einer Veränderung der Verhältnisse, die sowohl den Migranten als auch ihren biodeutschen Klassengenossen echte Teilhabe und Aufstiegschancen bieten würde, scheinen sie nicht interessiert.
Die rechte Identitätspolitik erweist sich auf diesem Feld als zuverlässiger. Ihre Anliegen verursachen konkrete Kosten, weil sie sich eines perfiden Tricks bedient: Zwischen der hiesigen Unterschicht und den realen wie imaginierten Neuankömmlingen derselben Klasse ziehen die rechten Identitären einen Graben. An den ökonomischen Verhältnissen wollen auch sie nicht rütteln, im Gegenteil, aber der unteren Klasse wird so ein Pseudo-Klassenfeind präsentiert, dem ganz konkret zu Leibe gerückt werden soll: Grenzschließung, Abschiebung, Kürzung der Sozialleistungen. Bei aller Einfältigkeit und allen rassistischen Entgleisungen können die Rechten den Menschen so ein Gefühl vermitteln, das den Linken seit 30 Jahren fehlt: Hier passiert etwas, das uns zugutekommt.
Die Sündenbocklogik, in der sich jedes politisch genutzte Ressentiment verfängt, findet sich derweil auch bei den Linken wieder. Was den Rechten der Migrant, ist den Linken der alte weiße Mann, der wutschnaubend seine unverdienten Privilegien verteidigt. Auch Koppetsch beschreibt ihn als ein treibendes Moment der Renaissance rechten Denkens:
„Getragen wird die Revolte gegen die liberale Demokratie und ihre politischen Eliten nicht zuletzt von relativ privilegierten Gruppen, wie etwa weißen Facharbeitern, traditionell-kleinbürgerlichen Mittelschichten oder konservativ eingestellten Wirtschafts- und Bildungsbürgern.“[1]
Das ist zunächst einmal faktisch fragwürdig. Gutbürgerliche Gruppen bilden empirischen Studien zufolge eine „substantielle Minderheit“[2] innerhalb der rechtspopulistischen Wählerschaften. Getragen werden die AfD oder der Front National von Menschen mit Zukunftsängsten, die den Staat durchaus nachvollziehbar als Instanz wahrnehmen, die ihnen jede Solidarität aufgekündigt hat, diese nach außen, den Flüchtlingen gegenüber, aber bereitwillig leistet. Jedes Schlagloch in hochverschuldeten Kleinstädten wird so zum Symbol eines Jahrzehnte währenden staatlichen Desinteresses.
Zudem verheddert sich die Aburteilung der Spezies des alten weißen Mannes mit Privilegien in einem seltsamen Paradox. Denn gäbe es sie nicht, würde wohl auch niemand nach Deutschland einwandern wollen. Es handelt sich hierbei schlicht um Männer, die weiß und damit alteingesessen sind, mit allen Vorteilen, die das nach sich zieht (Erbschaften, Netzwerke), um Männer, die alt sind und damit bereits die Früchte ihrer Ausbildung ernten und geerntet haben. Nur weil es solche Männer gibt, gibt es ein Exportweltmeister-Deutschland und umgekehrt. Nur weil das Wirtschaften in der BRD derlei Privilegien produziert, bildet sie überhaupt einen Anziehungspunkt für Menschen auf der Suche nach Zukunftsperspektiven jenseits der eigenen Heimat.
Die Pointe daran: Von der gegenwärtigen linken Identitätspolitik haben die alten weißen Männer nichts zu befürchten. Einige von ihnen wollen zwar auch weiterhin Frauenhintern tätscheln, „Schwuchteln“ auch so nennen und unter sich bleiben. Das empfinden die Linken zurecht als reaktionär bis übergriffig und arbeiten sich leidenschaftlich daran ab. Aber wenn von den Privilegien der alten weißen Männer die Rede ist, dann meist von ihrer Hautfarbe und ihren deutsch klingenden Namen, davon, dass sie im Gegensatz zu Mohammed unmarkiert sind und sich dessen nicht bewusst. Um Eigentumsverhältnisse oder Wirtschaftsmacht drehen sich die Vorwürfe nicht.
Wenn Koppetsch davon spricht, dass es nicht die Schuld der Linken sei, dass die Rechten erstarkt sind, scheint sie daher eine sehr eng gefasste Definition von „links“ zu gebrauchen. Natürlich sind die SPD, die Grünen, die rot-grüne Regierung unter Schröder, die linken Medien und Meinungsmacher für die bittere Enttäuschung der Unterschicht verantwortlich. Allesamt standen sie über Jahrzehnte hinweg in politischer bzw. öffentlicher Verantwortung und haben keinen Versuch unternommen, die materiellen Bedingungen eines großen Teils der deutschen Bevölkerung zu verbessern. Stattdessen haben sich die Zustände verschlechtert. Jedes dritte Kind in Deutschland lebt in Armut, Kommunen in ohnehin vom Strukturwandel hart getroffenen Regionen sind hochverschuldet und sparen den letzten Rest an Substanz kaputt. Dass sich auch materiell Bessergestellte den Rechten zuwenden und dort als Minderheit auftreten, widerlegt diese Fakten und deren Zusammenhang mit dem Erstarken der AfD nicht.
Zwar ist es in der Tat nicht die Identitätspolitik selbst, die den Arbeiter sein Kreuz bei der AfD setzen lässt. Allerdings durchaus die Kombination aus einer Überbetonung jener zahnlosen Identitätspolitik und dem gleichzeitigen Desinteresse an den materiellen Bedürfnissen der einfachen Leute. Fast entschuldigend führt Koppetsch an, dass sich linke Politik nun mal stets auf der Seite der Aufsteiger befinde, nie auf jener der Absteiger. Damit legt sie unfreiwillig den problematischen Kern der heutigen linken Politik offen: Der prekär beschäftigte weiße Arbeiter wird als privilegiert imaginiert, selbst wenn alle Fakten dagegen sprechen, weil es eben noch Leute gibt, die weniger privilegiert sind als er. Dabei werden Hautfarbe und Herkunft von den Linken sogar zur Essenz erhoben, weil sie nicht bereit sind, eine weitere Unterscheidung zu ziehen: jene zwischen dem weißen Prekariat und den weißen Eliten. Das ist fatal.
Paradoxerweise gehen die Linken damit derselben Logik in die Falle, die den Arbeiter von den Sozialdemokraten zur AfD überwandern lässt. Denn der weiße Arbeiter fürchtet ja tatsächlich um seine Privilegien, begreift sich selbst also auch als etabliert. Allerdings: Der weiße Arbeiter, der 1.350 Euro Nettogehalt nach Hause wuchtet (z. B. ein Postbote) und nicht weiß, ob er im Winter noch einen Job hat, besitzt keine Privilegien. Er denkt das nur. Und fürchtet um seinen letzten Rest an leistungsgesellschaftlicher Würde: Anstellung und Mietwohnung.
Daher stimmt es, wenn Koppetsch schreibt, der AfD-Wähler und damit auch der weiße Arbeiter richte seinen Blick längst nicht mehr nach oben , wie es das Proletariat zu Marx‘ Zeiten tat, sondern nach unten, wo Neuankömmlinge vermeintlich damit drohen, ihm das Verdiente streitig zu machen. Aber das diskreditiert nicht dessen Unzufriedenheit mit der Politik vergangener Jahrzehnte und hilft ihm nicht über die Verhöhnung hinweg, als die er die staatliche Hilfe für staatsfremde Menschen angesichts seiner Situation empfinden muss.
Anders ausgedrückt: Argumente wie jene von Koppetsch führen aufgrund der Weigerung, die einheimischen weißen Männer ebenfalls als untereinander partikularisiert anzuerkennen, geradewegs in die von ihr bemängelte „Hierarchisierung sozialer Ungleichheiten“[3]: Migrantische, homosexuelle, trans oder weibliche Belange sind real und zu respektieren, die Ansprüche von weißen Männern hingegen ohnehin nur Beißreflexe. Erst in diesem Sinne wirkt die linke Identitätspolitik spalterisch. In einem ganz anderen Sinne wirkt sie systemstützend, sprich konservativ: die Ignoranz gegenüber ökonomischen Themen, die Weigerung, selbst die liebgewonnenen Migranten als Wirtschaftsflüchtlinge anzuerkennen und die Überheblichkeit, mit der mit den Sorgen der einheimischen arbeitenden Bevölkerung umgegangen wird, manifestieren die Verhältnisse, in denen wir leben, weil fortwährend suggeriert wird, dass es hier nichts zu besprechen gebe.
Wenn der Bundestag in Regenbogenfarben erstrahlt und die Claudia Roths und Martin Schulzens dieses Landes glückstrunken aus dem Reichstag wanken, als hätten sie mit der Einführung der Homoehe ihr politisches Lebenswerk vollendet, dann ist klar, dass von diesen Menschen nichts an ökonomischer Basisarbeit zu erwarten ist. Wenn eine Professorin für Soziologie in den AfD-Wählern in erster Linie den bürgerlichen Klassenfeind erblickt und linke Politik von jeder Verantwortung freispricht, dann ist ebenso klar, dass selbst die Arbeit am ideellen Überbau, die seit Jahrzehnten im Fokus linker Anstrengungen steht, völlig fruchtlos geblieben ist. Doch immerhin: Die Kinderarmut in Deutschland will man bis 2025 „mindern“. Francis Fukuyama lacht sich derweil ins Fäustchen, blättert er in seinem Text aus dem Jahr 1990, in dem er angesichts des Untergangs der Sowjetunion und des mit ihr verbandelten Kommunismus das „Ende der Geschichte“ konstatierte. Knapp 30 Jahre später hat er Recht behalten: Am Kapitalismus wird nicht gerüttelt.
[1] https://www.soziopolis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/ressentiments/
[2] https://www.progressives-zentrum.org/wp-content/uploads/2018/03/Ru%CC%88ckkehr-zu-den-politisch-Verlassenen_500-Gespra%CC%88che-in-rechtspopulistischen-Hochburgen-in-Deutschland-und-Frankreich_Studie-von-Johannes-Hillje_Das-Progressive-Zentrum.pdf
[3] https://www.soziopolis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/ressentiments/
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