Blauer Dunst auf allen Lippen

Zigarette Postmoderne

Warum die Zigarette die Essenz des postmodernen Menschen veranschaulicht – nach dem Sex und nach der allerletzten Kippe – und weshalb ihr Verlust zu Bedauern ist

Die Zigarette danach belebt den Raum mit etwas, das eigentlich nicht mehr da ist: dem Akt der Befriedigung. Im Verlangen manifestiert sich stets ein Bedürfnis, dass durch die Befriedigung getilgt wird. In die postkoitale Erkenntnis dieses Verlusts des Verlangens und die damit einhergehende Melancholie bricht die Zigarette als das Versprechen einer ewig fortsetzbaren Reihe von Verlangen und Befriedigung. Nebeneinander auf nassen Laken liegend, pafft man den blauen Dunst in die zwischen den Vorhängen durchstoßenden Sonnenstrahlen und empfindet eine gewisse Beruhigung. Das Epizentrum der eigenen Existenz, die Fortpflanzung, ist nicht alles, es bricht eine neue Form der Sinnhaftigkeit in das Dasein, die es transzendiert. Diese Macht der Zigarette danach speist sich dabei gerade aus der Verbundenheit des Glimmstängels mit dem Dasein, aus seiner klaren Affinität zur Befriedigung, die sich allerdings um ein vergeistigtes Element erweitert, jenem der Einsicht in die eigene Überlegenheit gegenüber dem biologischen Prozess von Trieb und Triebbefriedigung.

Die postkoitale Melancholie wird rauchend zelebriert

Wenn man so will, ist die Zigarette danach eine symbolische Verkörperung der im Liebesakt (gegenüber dem reinen Fortpflanzungsakt) bereits enthaltenen Transzendenz des Biologischen. Sie verweist auf eine gewisse Hoffnung, jenen Optimismus, der uns dem rein Triebhaften zu entheben scheint und uns einen Platz für Bedeutung und Dauer zuweist. Dabei haftet der Zigarette danach allerdings jene Universalität an, die dem Liebenden qua seiner Liebe stets drohend verloren geht – wahre Liebe begreift den Geliebten stets als unersetzlich.

Die Zigarette danach aber simuliert eine ewige Austauschbarkeit, ist sie doch als Erfahrung stets gänzlich reproduzierbar, gerade weil hier eine Zigarette geraucht wird, dieses Ursymbol der individuellen Masse. Kein Geliebter gleicht dem anderen, doch jede Zigarette gleicht sich selbst bis in die Ewigkeit. In dieser Universalität tröstet sie also noch auf einem zweiten Wege: Sie deutet eine Befriedigung an, die nicht nur fortgesetzt ist, sondern dem schmerzlichen Fakt der Individuation enthoben.

Vielleicht erklärt sich hieraus die der Zigarette danach innewohnende Tendenz zur Vereinzelung der Geliebten. Was vorher als vermeintlich gemeinsam Erlebtes wahrgenommen wurde, obwohl natürlich jeder etwas völlig anderes wahrnimmt und die gemeinsamen Laken das einzig wirklich Geteilte darstellen, bringt die Zigarette danach die grundlegende Getrenntheit der Liebenden wieder hervor und veranschaulicht so erst die egoistische Rückbesinnung, die der postkoitalen Melancholie zu eigen ist. Wenn nun in nicht allzu fernen Zeiten nicht nur das Rauchen im Bett, sondern das Rauchen an sich auf dem Altar der Fortschrittlichkeit geopfert werden wird, verliert der sexuelle Akt diese spezielle Ausdrucksform seiner inneren Begebenheiten.

Der Film Noir ist nichts ohne die Zigarette

Nicht umsonst greift der Film oftmals darauf zurück, gerade nicht den Sex selbst zu zeigen, sondern bloß dessen Anbahnung und dessen Ergebnis – rauchende Schwarz-Weiß-Menschen im Fadenkreuz des vorhangverschleierten Sonnenlichts ¬– und so dem eigentlichen Höhepunkt des Gezeigten Raum zu verschaffen: das Drama der Vereinzelung, dabei das Heilige der Vereinigung umso stärker betonend. Ungleich ärmer und abgedroschener hingegen das ebenfalls oft bemühte filmische Bild der auf dem Boden verstreuten Klamotten.

Auch hier wird der eigentliche Akt ausgeblendet, aber nur um etwas ihm uneigentliches zum Ausdruck zu bringen: Unschuld, Nacktheit als etwas Kicherndes, nicht als Lächerliches, dem Souveränität nur dort innewohnt, wo der animalische Ernst einhält oder, wie bei der Zigarette danach, die eigene Individuation festgehalten wird in einem Maße, das die Nacktheit für eine Weile in paradiesische Ursprünge zurückführt, also dorthin wo der Blick des Anderen noch nicht imaginiert wird, weil es vor allem die eigene Existenz ist, die verzaubert. Das filmische Bild der am Boden verstreuten Klamotten kann man daher allzu leicht selbst der Lächerlichkeit preisgeben, es entlarven: Die Kamera folgt der Klamottenspur, aus T-Shirts werden Schuhe, Unterhosen, Haarreife, bis die Kamera schließlich findet was sie sucht ¬ eine aufgelöste Frau inmitten eines Wäscheberges, die schreit: „Es muss doch hier irgendwo sein!“.

Versucht man hingegen, das filmische Bild der Zigarette danach lächerlich zu machen, stößt man an härtere Grenzen. Ein Paar rauchend im Bett, schwarz-weiß natürlich, die Sonnenstrahlen, sie wissen schon, und plötzlich steht die Dame auf, die Decke zurückschlagend, und gibt die Sicht frei auf die vollständigen Klamotten an den Leibern des Paares ¬ idealerweise der Mann im Anzug samt Krawatte und Schuhen, die Frau mit langem Rock und hochgeschlossener Bluse: „Schatz, ich denke wir haben jetzt genug gelüftet!“.

Aber der Witz hier ist von anderer Qualität, denn das ursprüngliche Bild, die Zigarette danach, wird nicht der Lächerlichkeit preisgegeben. Allein die Erwartungen des Zuschauers selbst sind es, die ihn in ihrer Enttäuschung zum Lachen bewegen. Gewiss, auch der Witz der zerstreuten Klamotten spielt mit diesen Erwartungen, doch in seinem Vollzug entlarvt er zugleich das ihm zugrundeliegende Bild als abgedroschen. Die Zigarette danach hingegen bleibt in ihrer Symbolkraft unbehelligt durch den Witz des Regisseurs, eben weil ihr mehr zugrunde liegt, als ein bloßer filmischer Code, der allen Beteiligten entgegenkommt: die völlig angezogenen rauchenden Menschen im Bett sind trotzdem vereinzelt.

Nur noch eine letzte Zigarette

Der zweite wesentliche Aspekt der Zigarette als Ausdrucksmittel des postmodernen Menschen wurzelt in ihrer negativen Konnotation, die freilich selbst ein Merkmal der Postmoderne ist. Vor den Weltkriegen galt Rauchen als ungefähr so schädlich wie der alljährliche Besuch des Schornsteinfegers für den heimischen Kamin. Insofern die Zigarette also schädlich ist, bedingt ihr Genuss eine gewisse Ambivalenz. Einer pascalschen Wette gleich schließt der Verzichtende, dass ihr Genuss nicht im Verhältnis zu ihrer potentiellen Schädlichkeit steht (potentiell in dem Sinne, dass mein Großvater sein Leben lang rauchte und mit 85 friedlich einschlief). Was ihm durch die Askese gewiss entgeht, ist durch das mögliche Dahindarben mit Lungenkarzinom nicht zu entschuldigen.

Diese Zukunftsgewandheit ist zugleich Merkmal des postmodernen Menschen und zugleich nicht. Denn einerseits erhebt sich für ihn die Frage nach der Zukunft wie für keinen anderen Menschenschlag vor ihm, da die Sache mit der Ewigkeit nicht länger von dem dafür zuständigen Bürokratiemonster namens Gott und seinen irdischen Stellvertretern übernommen wird (was ist der Ablasshandel oder überhaupt die Vorstellung von postirdischer Strafe oder Belohnung anderes als Bürokratie in ihrer Vollendung und inwiefern haben wir wirklich das Recht, uns über das chinesische Sozialpunktsystem aufzuregen?). Andererseits versinkt die Zukunft dadurch auch im Dunklen, die Hoffnung wird zur hohlen Phrase degradiert und schließlich kommen wir mit Camus doch alle zu dem Schluss, dass die Grausamkeit der Gegenwart nicht mit einer noch kommenden, glorreichen Zukunft gerechtfertigt werden darf.

Das innere Panoptikum tritt an die Stelle der Obrigkeit

Im Gulag des Zigarettenverzichts also ist der postmoderne Mensch auf die Besonderheiten seiner Epoche zurückgeworfen, mehr noch, ihm wird mit jeder Kippe erneut die Radikalität der eigenen Verantwortlichkeit vor Augen geführt, die sich aus diesen Besonderheiten ergibt: die Existenz geht der Essenz voraus in dem Sinne, dass auch die eigene Gesundheit Produkt meiner eigenen Handlungen ist anstatt die Strafe Gottes. Die so erfahrene Verinnerlichung des Panoptikums, die nach innen gerichtete, ständige Selbstbeobachtung, erfährt ihre Aufhebung nur noch dort, wo dem Verlangen auch nachgegeben wird. Das Verlangen zu haben, stellt längst kein erklärungswürdiges Phänomen mehr dar. Die Frage danach, wie das Böse in die Welt kommt, ist durch die Vorrangigkeit der Existenz gegenüber der Essenz, also des Subjekts vor dem Prädikat, wenn sie mir die philosophische Entgleisung erlauben, hinreichend begründet.

Im Akt des Genusses also vollzieht sich eine Art innere Revolution gegen die Verantwortung, die ja doch nicht heißt, die freie Wahl zu haben, sobald sich erst einmal das Über-Ich bzw. die Anderen (wie bei der Nacktheit) in Stellung gebracht haben. Radikale Verantwortung unter diesen Umständen kann stets nur heißen, die Freiheit zu haben, das vermeintlich Richtige zu tun. Wer raucht, negiert daher diese Freiheit, was die vielleicht schönste Art der Revolution ist, weil sie sich so losgelöst von dem übliche Gestus vollzieht, der der revolutionären Absicht stets eine übergeordnete und unbezweifelbare Gutheit unterschiebt.

Die Freiheit nicht zu rauchen

Gleichzeitig aber, noch während oder gar vor diesem Akt des Ja-Sagens zur eigenen Unfreiheit, belügt sich der Rauchende selbst, indem er den Anspruch formuliert, dies sei seine letzte Zigarette: für den Abend, für die Woche, für das ganze Leben. In diesem Selbstbetrug spiegelt sich seine ganze postmoderne Verfassung wider. Radikale Freiheit gelingt nur dort, wo der radikalen Verantwortung entsagt wird, was wiederum nur dort gelingt, wo sie auf ein Später vertröstet wird, dasselbe Später, dem wir eigentlich mit Camus entsagt haben. Die letzte Zigarette ist die Akzeptanz der Grausamkeit der Gegenwart zugunsten eines noch kommenden, idealen Guten.

Der Rauchende kehrt also wie der die postkoitale Melancholie mit einer Zigarette danach Auffangende ebenfalls ins Paradies zurück: Er nascht vom Baum der Erkenntnis, dessen Frucht nichts anderes beherbergt, als die Einsicht, ein Individuum zu sein, das sich sowohl einen Begriff von der Nacktheit machen kann (stets bezogen auf die Existenz eines Anderen, vor dem allein man nackt sein kann) als auch eine Vorstellung davon besitzt, dass die Nacktheit und damit auch die Freiheit, das Richtige zu tun, bedeutungslos werden, sobald die Zigarette glimmt und das innere Panoptikum als das entlarvt wird, was es ist: Essenz, die behauptet, der Existenz vorauszugehen.

Die letzte Zigarette ist wie die Zigarette danach die letzte Rebellion des postmodernen Individuums gegen die Tatsache des in die Welt Geworfenseins, also gegen die Konfrontation des noch essenzlosen Ichs mit dem bereits zu Essenz geronnenen Über-Ichs, das immer war und noch sein wird, lange nachdem das Individuum die Erde wieder verlassen hat.

Verlässt nun die Zigarette unsere Erde, so sollten wir misstrauisch bleiben und aufpassen, durch welchen verqueren Mechanismus sie ersetzt werden wird und inwiefern dieser die herrschende Ideologie auf viel fröhlichere Weise verinnerlicht, als es die Zigarette je gekonnt hätte. Denn das Individuum, manifestiert im Geliebten, vor dem allein die Nacktheit wieder verschwinden kann, existiert allein deshalb, weil es den Makel des Kollektivs verkörpert, dasjenige also, was das Kollektiv nie erreichen kann: allein zu sein, auf einem Bett mit weißen Laken, inmitten von Vorhängen zerklüfteter Sonnenstrahlen, an einer letzten Zigarette danach ziehend. Oder anders ausgedrückt: Das Kollektiv war immer schon ein Nichtraucher.