Auf 70 Seiten widmet sich Houellebecq in seinem neuesten Werk ehrerbietend Schopenhauer, überlässt ihm mit raumgreifenden Zitaten die Hälfte des Platzes – und schmort doch die meiste Zeit im eigenen Saft.
Wie schon bei seinem Erstling „Gegen die Welt, Gegen das Leben“, eine spät veröffentlichte Auseinandersetzung mit dem Werk H.P. Lovecrafts, bedient sich Houellebecq eines anderen Autors, um den eigenen Ressentiments, dem eigenen Welt- aber vor allem Sich-Selbstbedauern per Autoritätsargument Geltung zu verschaffen. Das ist nicht besonders aufregend, für Fans des Autors aber bisweilen immerhin ernüchternd.
Wer in „Unterwerfung“ noch eine brilliante Kritik der eigenen, westlichen Wertegesellschaft und ihrer inneren Leere sah, wird sich wie schon nach der Lektüre des Lovecraft-Essays fragen müssen, wie sehr das Bild des reaktionären Intellektuellen der Wirklichkeit entspricht. Denn Houellebecq enttarnt sich mitunter selbst als zwar reaktionär, aber gewiss nicht intellektuell anspruchsvoll oder gar reflektiert.
So lässt er sich etwa dazu hinreißen, ein längeres Schopenhauerzitat über die Sinnlosigkeit alles Lebendigen, angereichert mit expliziten Beispielen für die der Natur innewohnende Grausamkeit, den Umweltschützern zu widmen, die doch tatsächlich ignorant genug sind, dieses Grauen für schützenswert zu halten. Das wirkt nicht nur angesichts der poetischen Qualität des Zitats deplatziert. Diese Gründungsgedanken des Existentialismus reichen unüberhörbar wesentlich weiter als bis zum nächsten Treffen der Grünen Jugend, aber Houellebecq ist weder in der Lage diese Tragweite anzuerkennen, noch sich einen peinlichen, aggressiven Ausfall in Richtung Andersgesinnter zu verbitten.
Überhaupt stellt sich die Frage, was das Buch bezwecken soll. Als Schopenhauer-Kommentar ist es ob Houellebecqs wortkargen An- und Abmoderationen teils durchaus essentieller und kühner Textstellen ungeeignet. Allenfalls mag es dem von Schopenhauer gänzlich unberührten Leser einen vagen Einblick in einige Grundgedanken bieten. Übrig bleibt eine selbstreferentielle Nabelschau, mehr autobiographisch als autodidaktisch, und so ist es dann auch nicht zufällig Schopenhauers Ästhetik, die den Hauptteil des Essays ausmacht.
Schopenhauer untersucht wie wie Kant und Schiller vor ihm die ästhetische Erfahrung vor allem vom Rezipienten her und stimmt mit diesen letztlich darin überein, dass nur das interesselose Betrachten, ein Staunen vielleicht, die Wahrnehmung des Schönen ermöglicht. Wer mit Begierde auf eine Frau blickt, sieht ihre Schönheit nicht. Schopenhauer verortet in diesem desinteressierten Zustand der ästhetischen Erfahrung folgerichtig den einzigen Ausweg aus dem von ihm so pessimistisch beschriebenem sinnlosen Treiben des Lebens. Nur im Museum, Theater oder auf Safari – wann immer wir es uns also zugestehen – sind wir keine triebgesteuerten homo oeconomicus und können Augenblicke der Versöhnung in und mit der Welt finden.
Soweit, so philosophiehistorisch. Dann aber, so Houellebecq, muss auch der Künstler, dem es darum geht, das Schöne aufzugreifen und darzustellen, einen interesselosen Blick auf die Dinge pflegen und sich letztlich auf seine Intuition verlassen, frei von Konzepten und Absichten. Das Genius erschöpft sich in einer göttlichen Gabe zur Naivität. Hier meint Houellebecq offenbar sich selbst, den Diagnosensteller, der beobachtet und diese Beobachtungen unverfälscht wiedergibt.
Der Zyniker, der unbeteiligt die Schrecken der Welt zur Kenntnis nimmt wie Diogenes in der Tonne, ist immun gegen die Kritiker, die ihm Immoralität vorwerfen. Seine Beobachtungsgabe erfordert diese Teilnahmslosigkeit, der unverstellte Blick auf das Schöne in potentiell Allem, auch in Körperflüssigkeiten und klaffenden Wunden, übertrifft die moralinsaure Ästhetik der wohlgelittenen Künstler, die doch nur Gesinnungsgrind beschauen und reproduzieren, aber niemals echte Kunst.
Gleichzeitig erfährt der Intellekt eine Abwertung, denn nicht er ist die notwendige Bedingung für die Kunst, sondern gerade das Gegenteil einer gut ausgebildeten Rationalität. Houellebecqs Selbstrechtfertigung ist damit an ihren Höhepunkt gelangt. Während Kunsthochschulen nur verzogene Pseudoartisten ausspucken, verbirgt sich der wahre Künstler hinter jenem unverstellten Blick, der nicht erst zu angeblicher Mündigkeit erzogen werden musste.
Houellebecq gibt also den Blick auf sich selbst frei, wenn er sein Denken mit jenem Schopenhauers zu rechtfertigen sucht. Das ist nur deshalb nicht bloßes Boulevard, weil der Autor einen Roman wie „Unterwerfung“ geschrieben hat. Gleichzeitig gibt der Essay Anlass zu Befürchtungen. Denn wenn ein Autor sein Betriebsgeheimnis öffentlich preisgibt, dann meist, weil er seinem Werk nichts Wesentliches mehr hinzuzufügen hat.
Darin liegt vielleicht doch noch eine geniale Pointe des Büchleins. Denn der notorische Pessimist, der von sich selbst vermutlich meint, die Dinge schlicht so zu sehen, wie sie nunmal sind (und Schopenhauer sie auch schon sah), verrät sich durch den Trost, der sich aus einer solchen Weltanschauung ergibt: Der Tod ist kein Makel, sondern die finale Erlösung von dem ewigen Getriebe. Houellebecq zeigt sich in „In Schopenhauers Gegenwart“ als ein solcher von der Welt Verbitterter und verrät damit womöglich die Quelle seiner gleichwohl existenten Moral. Hinter der Bitterkeit liegt die Hoffnung, sich nicht in der Welt getäuscht haben zu müssen.
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Bildquelle: Fronteiras do Pensamento, Creative Commons.
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