Grenzkontrollen und die Logik des Wir

Grenzkontrollen

Der Schlagbaum ist der schönste Baum, manchmal tut es auch ein Zaun. Mit den deutschen Grenzkontrollen ist die Flüchtlingskrise in eine neue Phase übergetreten. Das Limit ist erreicht, nun wird erstmals tatsächlich gehandelt. Hinter den Bemühungen an der deutschen, ungarischen oder gesamteuropäischen Grenze steht sicherlich auch ein Gefühl der Überforderung. Aber vor allem folgt die Politik der alten Logik des Wir und Ihr.

Wenn Viktor Orbán sagt, es gebe kein Recht auf ein besseres Leben, dann meint er damit: Ihr habt kein Recht auf unser Leben. Man mag sich die Frage stellen, warum umgekehrt wir ein Recht auf unser Leben haben sollen. „Aber, aber!“, rufen Konservative und Libertäre. Wir haben uns dieses Leben erarbeitet, erbaut, schlicht verdient. Aber, aber. Was hat Hassan falsch gemacht? Wieso verdient er es nicht? War er weniger fleißig? Vor allem aber: Muss man sich ein Recht auf ein ordentliches Leben erst verdienen?

Natürlich sind diese Fragen weltfremd, realitätsfern, vielleicht sogar unnütz. Am deutschen oder europäischen Wesen, und damit vor allem an unserem Wohlstand, kann die Welt nicht genesen. Doch es bleiben praktische, wirtschaftspolitische Gegebenheiten, die eine Weltgemeinschaft des bescheidenen Wohlstands Aller verhindern. Und nicht, wie Orbán behauptet, moralische Gründe. Letztere beanspruchen absolute Gültigkeit, erstere sind kontingent. Deshalb ist diese Unterscheidung wichtig.

Moralische Urteile verzerren die Debatte

Wenn Angela Merkel sagt, Balkanflüchtlinge müssten Deutschland wieder verlassen, dann meint sie damit: Schutz den Schutzbedürftigen, aber keine Großzügigkeit gegenüber Armen. Wirtschaftsflüchtlinge sind nicht erwünscht, denn sie fliehen ja nur vor finanzieller Not, nicht vor Bedrohung an Leib und Leben. Versteht man den Staat als die Summe seiner Bürger und somit seinen Reichtum als Ergebnis der Arbeit dieser Menschen, dann fällt es in der Tat schwer, zu zeigen, dass ein Staat nicht alles Recht der Welt hat, seinen Wohlstand nach seinem Dafürhalten zu verteilen.

Aber warum darf nicht jeder überall leben? Unseren Anspruch an Staatsbürgerschaft begründen wir als Neugeborene. Dabei ist es kaum zu erklären, wieso der Ort meiner Geburt für meine Nationalität ausschlaggebend sein soll. Geboren werden wir als Menschen. Zu Deutschen, Europäern und Syrern werden wir gemacht, falls es überhaupt so etwas gibt wie „Deutschsein“. Folglich ist die moralische Kategorie eine andere. In den meisten Fällen haben unsere Eltern in dem Land, in dem wir das Licht der Welt erblicken, bereits gelebt, gearbeitet und Steuern gezahlt. Die staatliche Fürsorge, die uns zuteil wird, ist daher teilweise eine Rückerstattung dieser elterlichen Leistung, doch vor allem eine Investition in unsere Zukunft. Und in die des Staates, dem wir hoffentlich erhalten bleiben. Warum dürfen wir dann aber jederzeit auswandern, nicht aber einwandern?

Offenbar weil wir dem Einzelnen als Gesellschaft die Freiheit zugestehen, ein System zu verlassen, auch wenn es in ihn investiert hat. Den Wirtschaftsflüchtling lassen wir hingegen nicht herein, weil wir nicht in jeden Menschen investieren können. Und weil wir nicht an die Rendite glauben, die wir jedem, der glücklich genug ist, hier seinen ersten Schrei zu tun, blindlings unterstellen. Man mag sagen, der sei eben einer von uns, der andere nicht. Aber darauf zurückziehen sollte man sich gerade als Europäer niemals.