Die verlorene Generation

Joachim Löw

Die DFB-Elf hat seit 2014 keine neuen Leistungstäger hervorgebracht, weil die nachfolgende Generation vor allem mit sich selbst zu kämpfen hatte. Trainer Joachim Löw vertraute auf die alte Garde und das alte System – jetzt muss er selbst auf den Prüfstand.

Auf Jahre unschlagbar, so mag manch einer gedacht haben, als die deutsche Nationalmannschaft 2014 Weltmeister wurde und Top-Talente wie Marco Reus, Julian Draxler, Ter Stegen, Ilkay Gündogan und selbst Finaltorschütze Mario Götze entweder gar nicht erst im Kader standen oder nur eine untergeordnete Rolle spielten.
Der Verlust von Größen wie Mertesacker, Lahm, Klose und absehbar Schweinsteiger schien kompensierbar. Einer der Topscorer der Weltmeister-Mannschaft, André Schürrle, hatte sich noch nicht mal einen Stammplatz erkämpfen können. Die anderen Leistungsträger wie Hummels, Kroos oder Thomas Müller waren gerade erst Mitte Zwanzig. Zur Mission Titelverteidigung würden sie im besten Fußballeralter antreten.
Auch auf der Trainerbank konservierte man das Erfolgsrezept. Jogi Löw blieb und mit ihm der dominante Stil, der Anspruch, Fußball spielen zu wollen.
Nach der ordentlichen aber glücklosen EM 2016 und mit dem gewonnenen Confed Cup im Jahr darauf, schien das Reservoir an potentiellen Leistungsträgern nahezu unerschöpflich: Joshua Kimmich, Leroy Sané, Leon Goretzka, Julian Weigl, Timo Werner – die Liste ließe sich fortsetzen.
Und doch hat dieses Team von den letzten 10 Partien gegen große Fußballnationen nur zwei für sich entscheiden können. Absolvierte seltsam fahrige Testspiele. Stand auch nach dem in letzter Sekunde gegen harmlose Schweden abgewendeten Aus mit dem Rücken zur Wand. Und verlor schließlich gegen die bereits ausgeschiedenen Südkoreaner.
Die Geschichte dieser deutschen Nationalmannschaft seit 2014 ist daher eine Geschichte von enttäuschten Hoffnungen, von Einzelschicksalen – und damit von einem Kader, der auf der Suche nach sich selbst ist. Sie ist aber auch die Geschichte eines Trainers, der von seiner Mannschaft zum ersten Mal schon gegen mittelmäßige Gegner gebraucht wurde – und sie im Stich ließ.

Götzes Werdegang symptomatisch für die neue Generation

Will man sie erzählen, muss man nicht damit beginnen, wie Mario Götze im Sommer 2016 von den Bayern zurück nach Dortmund wechselt. Wie die ins Stocken geratene Karriere des einstigen Wunderkindes auch an alter Wirkungsstätte nicht von Neuem Fahrt aufnehmen will. Man muss auch nicht damit beginnen, wie Matthias Ginter im Pokalfinale 2016 von Thomas Tuchel im Mittelfeld aufgeboten wird und danach von seinen Mannschaftskollegen im Fernsehen bloß gestellt wird, weil diese ihrem ausgebooteten Freund Nuri Sahin die Stange halten. Tuchel wechselt daraufhin ins Sabbatical, Ginter nach Gladbach.

Man kann damit beginnen, wie Pep Guardiola im selben Jahr nach einem 0:0 im Topspiel gegen den BVB noch auf dem Platz minutenlang wild gestikulierend auf den 21-jährigen Joshua Kimmich einredet, der gerade ein herausragendes Spiel in der Innenverteidigung abgeliefert hat. Anschließend wird Guardiola zu Protokoll geben, dass Kimmich auf jeder Position spielen könne. Am Ende dieser Saison verlässt Guardiola die Bayern, Kimmich bleibt und spielt sich im Verein wie in der Nationalmannschaft fest. Als Rechtsverteidiger und somit gleich doppelter Nachfolger des pensionierten Phillip Lahm. Auf einer Position also, die er tatsächlich spielen kann, die ihn aber in seinen Stärken einschränkt und seine Schwächen offenlegt: Aus der Mitte des Feldes heraus kann Kimmich ein Spiel an sich reißen, auf dem Flügel begeht er Stellungsfehler und muss zu oft in ungeliebte Laufduelle. Eigentlich war Kimmich als Nachfolger von Xabi Alonso verpflichtet worden.

Kimmich Lückenbüßer statt Leistungsträger

Aber was hilft’s, sagt Kimmich, er spiele natürlich dort, wo er am meisten Minuten bekommt. In der Nationalmannschaft blockieren Kroos und Khedira sowie Hummels und Boateng die zentraleren Positionen – allesamt Weltmeister. Eine echte Alternative für Kimmich auf der defensiven Außenbahn drängt sich jeweils weder auf, noch wird sie gesucht. So versauert eins der wenigen Talente, das seine Frühform bestätigte und sie in internationale Klasse überführte im Limbus des Notnageldaseins.
Fast wünscht man sich, Guardiola hätte Kimmich nach Manchester geholt, als Ancelotti die Bayern Stück für Stück taktisch degenerieren ließ und Kimmich darüber ins Grübeln geriet.

Betrachtet man die beiden deutschen Talente, die nicht seit 2016 an Pep-Phantomschmerz leiden, sondern tatsächlich in Manchester gelandet sind, verstärkt sich dieser Wunsch noch. Ilkay Gündogan litt weiter an Verletzungsanfälligkeit, zeigte aber in seinen fitten Phasen, wie sehr er in einem passintensiven Positionsspiel aufblühen kann. Leroy Sané hingegen, 50 Millionen-Einkauf aus Schalke, mauserte sich zum Stammspieler und sammelte Scorer wie der gemeine Fan WM-Paninisticker. Auf Sané hat Joachim Löw allerdings verzichtet, weil er unter seiner Führung nicht ansatzweise zu einer solchen Leistung im Stande war. Gündogan wurde zwar nominiert, laborierte jedoch am Erdogan-Eklat sowie an der Abwesenheit einer klaren Spielstruktur.

Beim Raumdeuter gibt es nichts zu deuteln

Man kann die Geschichte auch mit einem Spieler beginnen, der gewiss nicht mit einem mentalen Trauerflor aufläuft, seit Guardiola die Bayern verlassen hat. Thomas Müller verlor unter ihm 2016 erst seinen Startelfplatz in den wichtigen Spielen, dann absolvierte er eine miserable Europameisterschaft. Unter Guardiolas Nachfolger Ancelotti setzte sich die Misere fort. Allein die schützende Hand der Großkopferten sowie die üblichen Verletzungssorgen der bayrischen Offensive verhinderten den endgültigen Verlust seines Stammspielerstatus.
Das dem Italiener zum Verhängnis gewordene Spiel gegen Paris im Herbst 2017, das mit 0:3 verloren ging, markierte den vorläufigen Tiefpunkt von Müllers Formkurve. Nachdem Ancelotti bereits zuvor mehrfach auf Müller verzichtet hatte, bot er ihn überraschend von Beginn an auf – Robben war fit – und sah zu wie Müller unterging. Danach übernahm Jupp Heynckes die Geschicke der Bayern und stabilisierte den Verein wie auch Müller. Doch in der Champions League enttäuschte Müller weiterhin, sowohl gegen Sevilla im Viertelfinale als auch beim Aus gegen Real Madrid.

Gegen Mexiko und Schweden stand Müller dennoch wie selbstverständlich in der Startelf – Jogi Löw setzte nicht auf einen Julian Brandt oder Marco Reus – und spielte derart unsichtbar, dass nun auch Medienliebling Müller von eben jenen angezählt wurde.
Müller gilt als Raumdeuter, als freies Radikal, dass Dinge anstellt, die niemand kommen sieht, am wenigsten er selbst. Aber der Fußball hat sich verändert. Es gibt sie noch, die Kleinen, bei der WM können wir sie derzeit in jedem zweiten Vorrundenspiel bestaunen. Aber die Kleinen, die nicht wissen, wie man verteidigt, die gibt es nicht mehr. Große Räume, die man deuten könnte – sie fehlen und sie fehlen vor allem Thomas Müller. Das hatte schließlich auch der Bundestrainer erkannt, weshalb er Müller gegen Südkorea auf die Bank setzte. Dachte man jedenfalls, denn als es eng wurde für Löw und sein Team, griff er doch wieder auf den Raumdeuter zurück. Ein erkennbarer Bruch im deutschen Spiel war die Folge.

Die Hoffnungsträger tragen alle ihr Kreuz

2016 war auch das Jahr in dem WM-Top-Joker André Schürrle nach einem durchwachsenen Aufenthalt in Wolfsburg nach Dortmund wechselte, dem Vernehmen nach als Wunschspieler Thomas Tuchels. Im Jahr darauf war Tuchel entlassen und Schürrle kämpfte mit der eigenen Belastbarkeit, bis er in der zurückliegenden Chaos-Saison des BVBs zwar spät so etwas wie einen Stammplatz erhielt, die Wucht vergangener Tage aber gänzlich vermissen ließ.
Julian Draxler wiederum verließ den VfL Wolfsburg in Richtung Paris, ehe die dort ansässigen Scheichs für über 200 Millionen Superstar Neymar verpflichteten und er im offensiven Kompetenzgerangel sichtlich den Kürzeren zog.
Marco Reus pendelte verletzungsbedingt zwischen langen Reha-Aufenthalten und kurzen Startelf-Intermezzos. Ter Stegen ist in der Weltklasse angekommen, darf aber nicht spielen, weil Neuer eben doch Manuel Neuer ist.
Die designierten Nachfolger der Generation Sommermärchen hatten seit dem Titelgewinn also vor allem mit sich zu tun.
Dadurch entstanden Lücken in der Kaderbreite, so üppig das Angebot an Talenten auch war. Keiner dieser Spieler konnte verlässlich als Leistungsträger gelten, als jemand der sich in das bestehende Gebilde namens Nationalmannschaft nicht nur einfügte, sondern es veränderte.

Eine trügerische Europameisterschaft

Was blieb, war das damals mittzwanzigjährige Weltmeister-Sextett, die Spieler, die zurecht einen Status der Unantastbarkeit beanspruchten: Kapitän Manuel Neuer, die Innerverteidigung aus Boateng und Hummels, die Doppelsechs Khedira und Kroos, sowie Spielmacher Mesut Özil – bis auf Kroos alle auch U21-Weltmeister von 2009. Diese Achse war potentiell stark genug, um ein Team zu tragen, das auf den übrigen Positionen allenfalls leicht überdurchschnittlich besetzt ist. Die EM 2016 schien dies zu untermauern. Mit Jonas Hector und Joshua Kimmich als Außenverteidiger, Draxler auf Links, Gomez im Sturm und dem bereits außer Form spielenden Müller auf rechts reichte es für das Halbfinale und weiterhin dominanten Ballbesitzfußball. Die ganz große Eleganz und Unberechenbarkeit ging dem Team allerdings bereits ab. Große spielerische Momente wie 2014 gegen Portugal oder Brasilien fehlten. Als der formstarke Mario Gomez für das Halbfinale gegen Frankreich ausfiel, war das Schicksal der offensiv zu harmlosen deutschen Elf besiegelt.

Vom Confed Cup blieb weder eine Mannschaft noch ein System

Joachim Löw zog seine Lehren, erkannte wohl auch den Bedarf an einer Frischzellenkur. Im Jahr darauf reiste er mit einem Kader bestehend aus gestandenen aber eher im Hintergrund agierenden EM-Fahrern und jungen, aufstrebenden Talenten zum Confed Cup. Diesen gewann das völlig neu zusammengewürfelte Team, das gleichzeitig nie wieder so miteinander spielen würde und alles schien gut zu werden. Löw aber scheiterte an der Aufgabe, die Confed-Mannschaft mit den alteingesessenen Platzhirschen zu fusionieren.
Vergleicht man die Startelf der Partie gegen Mexiko mit jenen der EM, stellt man kaum Unterschiede fest. Einzig Timo Werner war mangels echter Konkurrenz in der Spitze gesetzt, nachdem Mario Götze als falsche 9 gar nicht erst mitfahren durfte und Mario Gomez nicht jünger geworden ist. Löw verließ sich auf seine Weltmeister, trotz der Ermüdungserscheinungen bei der EM 2016 auch auf sein bewährtes 4-2-3-1 und sah gegen Mexiko hilflos dabei zu, wie seine beiden Trümpfe zerrieben wurden. Die Weltmeister-Achse entpuppte sich dabei als instabil, wofür es ebenfalls individuelle Gründe gibt.

Weltmeister über dem Zenit?

Jerome Boateng kämpft seit zwei Jahren mit Verletzungen, für die WM ist er gerade noch rechtzeitig fit geworden. Anders als ein Marco Reus benötigt er stets eine gewisse Zeit, um auf sein Weltklasse-Niveau zu kommen. Die Gelb-Rote Karte gegen Schweden unterläuft ihm dann nicht. Hinter Manuel Neuer stand ein noch größeres Fragezeichen, beinahe ohne Spielpraxis hütete er das Tor der Nationalmannschaft. Den wuchtigen Schuss aus kurzer Distanz von Lonzano zum 0:1 für Mexiko parieren wenn überhaupt nur sehr wenige Torhüter. Manuel Neuer in Topform allerdings vielleicht schon. Einen Patzer wie in der ersten Hälfte gegen Südkorea hat man lange nicht von ihm gesehen.
Mesut Özil wechselte von den Königlichen, wo er unter der harten Hand José Mourinhos die besten Leistungen seiner Karriere ablieferte, zu Arsenal London. Einem Verein, der seine besten Zeiten hinter sich hat. Unter der alternden Trainerlegende Arsene Wenger genoss Özil mehr Freiheiten – gut getan hat es ihm nicht. Wenngleich er nicht derart schlecht spielte, wie der Stammtisch es nun grölt.
Toni Kroos wiederum wechselte zu Real Madrid und gewann dreimal die Champions League als unumstrittener Stammspieler. Doch ohne das madrilenische Star-Ensemble oder Bastian Schweinsteiger an seiner Seite gelingen auch ihm keine Wunder. Das hat die WM schonungslos aufgezeigt, aller Freistoß-Magie zum Trotz. Dort spielte meist Sami Khedira neben ihm, der wie Özil bei den Königlichen, also in der absoluten Weltspitze, keinen Platz mehr hatte.
Mats Hummels schließlich hat seinen Vernunftwechsel zu den Bayern scheinbar nie so ganz verwunden, seiner Topform läuft er seitdem hinterher.

Mannschaft hätte Joachim Löw gebraucht

Das Team war also darauf angewiesen, dass der Trainer mit seinen Ideen wett macht, was sie individuell nicht mehr auf den Platz bekommen. Nach dem Mexiko-Spiel muss auch Joachim Löw das erkannt haben. Antworten aber fand er nicht. Trotz Scoutingabteilung und umfangreichem Trainerstab hat Löw die Probleme nicht anhand der durchwachsenen Vorbereitung antizipiert. Ob eine kritische Aufarbeitung der EM 2016 jemals stattgefunden hat, scheint nun ebenfalls fraglich, denn die damaligen Probleme fanden bei der WM ihre Fortsetzung.

Taktischer Tiefschlaf in der Bundesliga

Man kann die Geschichte dieser Mannschaft auch mit einem Trainer beginnen, der kaum einen von ihren Spielern je trainiert hat. Als Jürgen Klopp 2011 und 2012 die Bayern demütigte, holten diese wütend zum Gegenschlag aus. Seinen Höhepunkt fand diese neue alte Rivalität im Champions-League-Finale 2013 und mündete in der Verpflichtung von Pep Guardiola. Der Weltmeistertitel ist ohne die damaligen deutschen Clasicos nicht denkbar. Selten zuvor hat ein Trainer so von der Arbeit gleich mehrerer Kollegen profitiert wie Löw 2014. Die entscheidenden Elemente – Klopps Gegenpressing und Guardiolas Positionsspiel – übernahm er ohnehin, aber noch entscheidender war damals wohl die Topform, mit der seine Spieler nach Brasilien reisten.
2018 hat die Liga vier Jahre Bayerndominanz hinter sich, spielt international keine Rolle mehr. Ein bieder aufspielendes Schalke 04 wurde Vizemeister. Das ist kein Bayernblues, das ist ligaweite Lethargie. Klopps Nachfolger Thomas Tuchel kitzelte die Bayern und den BVB in seinem ersten Dortmunder Jahr 2016 noch einmal zu Höchstleistungen. Andernfalls wäre wohl schon die EM ernüchternd verlaufen. Dieses Jahr hatte Löw nicht so viel Glück.
Sein Team hätte ihn also gebraucht, wie 2010 gegen Spanien, 2012 gegen Italien, 2016 gegen Frankreich. Nur diesmal eben schon in der Vorrunde und zwar bei allen drei Begegnungen. Löw konnte nicht liefern und seine Mannschaft somit kein Kollektiv sein, dass individuelle Schwächen auffängt. Kein Mexiko. Kein Schweden.

Denkt man sich die Schürrles und Götzes hinzu, die Gündogans und Draxlers in Höchstform, stellt man sich für einen Moment vor, diese Spieler hätten die Versprechen, die sie darstellten, eingelöst, Löw wäre nicht gebraucht worden. So aber fiel ihm der eigene Optimismus auf die Füße. Die Frage, die der DFB nun beantworten muss, lautet: Hielt Löw eine Neu-Ausrichtung nicht für nötig – oder konnte er sie nicht bewerkstelligen?