Manchester City ist gestern Abend trotz eines spektakulären 4:3-Erfolgs gegen Tottenham aus der Champions League ausgeschieden. In der Nachspielzeit hat das Team von Pep Guardiola zwar noch das nötige 5:3 erzielt. Das Stadion tobte, die Emotionen explodierten. Doch der Videobeweis ergab: Abseits, kein Tor. City ist raus. Zum Glück, meinen viele, das sei schließlich das gerechte Ergebnis. Aber der Fußball lebt nicht von Fairness. Er lebt von Emotionen.
Zu diesen Emotionen zählen die Angespanntheit vor einem großen Spiel, die Passion der Fans, die Wut auf gegnerische Spieler, das Zittern, die Hoffnung. Vor allem aber die Freude und das Leiden. Wegen diesen beiden Emotionen schauen wir Fußball. Die Freude über einen unverhofften Sieg, über einen großen Triumph, über Rettung in letzter Sekunde. Das Leiden an den fortwährenden Niederlagen unseres Klubs, an den vergebenen Chancen, an den unerklärlichen Fehlern, die uns Titel kosten.
Das Leiden und die Freude bedingen sich gegenseitig. Worüber soll man sich freuen, wenn man nie leidet? Und woran leiden, wenn man sich nie freut. Es existiert keine Extase ohne das Wissen um die vorangegangenen Entbehrungen. Die schönsten Siege bleiben jene, die auf Jammertäler folgen. Und das Leiden speist sich aus dem Wissen um den Erfolg, den man verpasst hat. Daraus, dass man weiß, wie spektakulär der Klassenerhalt gewesen wäre, wie es sich angefühlt hätte, eine Liga zu schlagen, in die man nicht gehört.
Leiden und Freude haben eine Sache gemeinsam. Um sich zu entfalten, um uns fortzureißen aus dem alltäglichen, wohltemperierten Emotionseinerlei, benötigen sie die Gewissheit. Die Gewissheit, dass der Schiedsrichter abgepfiffen hat, dass der Ball die Linie überquert hat, dass es kein Abseits war. Der Videobeweis durchkreuzt diese Gewissheit für immer.
Nun mag man einweden, dass er die Gewissheit nur auf eine höhere Ebene verlege und dem Fußball eine Gewissheit der Wahrhaftigkeit beschere: Mit Videobeweis geht es für den Fan nicht mehr darum, dass das Tor zählt und es deshalb kein Abseits „war“, sondern darum, dass es kein Abseits war und deshalb das Tor zählt. Aber diese Wahrhaftigkeit hat ihren Preis.
Ein Tor ist kein Tor mehr, wie Raheem Sterling seit gestern Abend zu berichten weiß. Die Torlinie hat ihre Autorität eingebüßt. Die zwölf Zentimeter breite Markierung unterlag zwar schon immer dem Vetorecht der Schiedsrichterpfeife. Doch die war dem Augenblick ausgeliefert. Nun sind sie beide entmachtet und mit ihr der Augenblick selbst. Wie pawlowsche Hunde wurden wir Fans von Kindesbeinen an daran gewöhnt, das Pfeifen und das Wackeln des Tornetzes mit zwei Reaktionen zu quittieren: Freude oder Leiden. Das ist vorbei.
Noch ist der Videobeweis jung. Doch Abende wie der gestrige werden diese Konditionierung im Lauf der Zeit durch etwas anderes ersetzen. Durch das Innehalten, das Abwarten. Durch die Ungewissheit. Das ist gleichzeitig die einzige Hoffnung für Freud und Leid, die zwei Gründe, warum wir Fußball schauen: Vielleicht sind wir irgendwann so an den Videobeweis gewöhnt, dass wir erst jubeln, wenn der Kellerschiri sein O.K. gegeben hat. Aber dann haben wir die Emotionen, die mal zum Spiel selbst gehörten, an die Technik outgesourced.
In der Diskussion um den Videobeweis bleiben diese Opportunitätskosten unberücksichtigt. Auf dem Altar der Fairness darf alles geopfert werden. Fans wollen Gerechtigkeit heißt es dann. Aber haben wir deswegen mit Fußball spielen oder schauen angefangen? Weil am Ende immer der Beste gewinnt? Wegen der Gerechtigkeit? Die Wahrheit ist eine andere: wegen Freude und Leiden im Angesicht des Tores.
Bildquelle StockSnap
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