Leroy Sané ist das logische Opfer des Löwschen Systems

Leroy Sané WM-Kader

10 Tore, 15 Vorlagen. Ausgezeichnet als Bester Nachwuchsspieler der Premier League. So liest sich die zurückliegende Saison von Flügelstürmer Leroy Sané. Die WM in Russland aber wird er vor dem Fernseher verfolgen. Joachim Löw hat ihn zusammen mit Nils Petersen, Bernd Leno und Jonathan Tah aus dem Aufgebot gekürzt.

Angesichts von Sanés Leistungen beim englischen Meister Manchester City stößt diese Maßnahme des Chefbundestrainers bei den übrigen 80 Millionen Bundestrainern auf Unverständnis. Wer unter dem Trainergenie Pep Guardiola in der anspruchsvollsten Liga der Welt brillieren kann, sollte doch in der auf den Außenpositionen eher unterbesetzten deutschen Nationalmannschaft wenigstens eine kleine Rolle spielen. Aber Joachim Löw hat aus der Vergangenheit gelernt.

Löw bevorzugt mittlerweile Sicherheit

Früher ging Löw bei der Kaderzusammensetzung auch gerne mal ins Risiko. Bei der EM 2016 verzichtete er auf einen nominellen Ersatz für den einzigen Stoßstürmer Mario Gomez. Nachdem das Experiment Falsche 9 mit Mario Götze nach den ersten beiden Vorrundenspielen als gescheitert gelten musste, schlug die Stunde des anderen Mario. Starke Auftritte gegen Nordirland und Slowakei machten ihn zum Hoffnungsträger für die Mission Titelgewinn. Im Viertelfinale gegen Italien war er es, der Jonas Hector vor dem 1:0 durch Özil im Stile eines Spielmachers in Szene setzte. Dann machte der Oberschenkel zu und die EM war für Gomez beendet. Gegen Frankreich sollte ihn Thomas Müller ersetzen, blieb jedoch blass. Löw hatte keine echte Alternative für Gomez nominiert und bezahlte dafür mit einer harmlosen Offensive im Halbfinale.

Deshalb galt diesmal das Credo, jede Position müsse doppelt besetzt sein. Sané ist ein Mann für den linken Flügel, auf rechts gehen ihm die Qualitäten als Vorbereiter abhanden. In 44 Spielen als Rechtsaußen hat er nur drei Assists gegeben – als Linksaußen in 102 hingegen 39. Den linken Flügel der deutschen Nationalmannschaft beansprucht allerdings Führungsspieler Marco Reus für sich. Ein Unterschiedsspieler, ganz wie Sané es sein kann, nur hat Reus dies eben auch schon in der Nationalmannschaft bewiesen. Sané hingegen wartet noch auf seine ersten Scorerpunkte im DFB-Dress. Für den Ex-Schalker blieb also allenfalls die Rolle als Joker und Reus-Ersatz. Für Linksaußen reichte jedoch ein weiterer verdienter Spieler seine Bewerbung ein: Julian Draxler vertrat Reus dort während der EM 2016 und machte seine Sache ordentlich.

Das Löwsche System sieht keine Sanés vor

Zudem sind sowohl Draxler als auch Reus Flügelspieler, die gerne die offensiven Halbräume besetzen. Sie kleben nicht an der Außenlinie, rennen diese nicht hinunter. Lieber ziehen sie in die Mitte, bieten sich zwischen den Ketten an, ermöglichen am Strafraumeck schnelle Kombinationen. Die Außenline ist in Löws klassischem 4-2-3-1 aber auch im 3-4-2-1 des Confed Cups das Revier der Außenverteidiger. Jonas Hector und noch häufiger Joshua Kimmich überlaufen die offensiven Flügelspieler und geben dem Spiel der DFB-Elf die nötige Breite. Sané hingegen liebt die Außenbahn, das Dribbling und den schnellen Antritt. Im Löwschen System steht er dem eigenen Außenverteidiger tendeziell auf den Füßen herum.

Julian Brandt, der andere Youngster vom Flügel, ist zwar auch eher auf der linken statt der rechten Seite zu Hause. Doch Brandt war immer schon polyvalent, sammelte in der abgelaufenen Saison weniger Einsätze auf dem linken Flügel als auf der 10 oder rechts zusammen. Sein größter Pluspunkt: Er war beim Confed Cup dabei. Sané ließ sich damals die Nase richten und sagte ab. Als Ersatz von Stamm-Rechtsaußen Thomas Müller machte sich Brandt so unverzichtbar. Draxler hat auf rechts dasselbe Problem wie Sané. Fällt Müller aus oder bestätigt seine durchwachsene Form stünde außer Brandt niemand bereit.

Rudy und Ginter vollenden die Kaderstatik

Manch einer moniert daher folgerichtig, wieso Löw auf einen potentiellen 1-gegen-1-Joker zugunsten von vermeintlichen Kaderleichen wie Sebastian Rudy oder Matthias Ginter verzichtet. Aber da jede Position doppelt besetzt sein sollte, wollte Löw sich nicht auf einen Kuhhandel zwischen Defensive und Offensive einlassen. Ginter ist hinter Hummels, Boateng, Süle und Rüdiger zwar nur Innverteidiger Nummer 5. Als Ersatz für Rechtsverteidiger Kimmich ist er jedoch unentbehrlich. Zwar denkt man beim Gladbacher nicht unbedingt an schnelle Flügelläufe und präzise Flanken, das liegt aber vor allem an der fehlenden Anerkennung in der öffentlichen Wahrnehmung. Als Thomas Tuchel den BVB in der Saison 2015/16 zum besten Tabellenzweiten der Bundesliga-Geschichte coachte, absolvierte Ginter eine furiose Hinrunde als Rechtsverteidiger. In 12 Einsätzen erzielte er 2 Tore und gab 7 direkte Assists. Außerdem absolvierte Ginter einen bravourösen Confed Cup als Teil der Dreierkette – eine auch für die WM denkbare taktische Variante.

Rudy hingegen übernimmt als klassischer defensivstarker Sechser den Part des Khedira-Ersatzes. Insbesondere gegen spielstarke Teams wird Löw auf Kroos als alleinigen zentralen Aufbauspieler vertrauen und ihm einen weniger spielstarken Nebenmann zur Seite stellen. Die Variante Kroos-Gündogan oder Kroos-Goretzka wird man eher in der Vorrunde oder gegen einen defensiv ausgerichteten Achtelfinalgegner zu sehen bekommen. Wenn Khedira ausfällt, ist daher Rudy der dem Spielertyp getreue Wechsel.

Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich die Demission von Leroy Sané also als recht einleuchtender Schachzug des Bundestrainers. Er hätte wohl schon einen außergewöhnlich guten Eindruck im Trainingslager hinterlassen müssen, damit Löw seinetwegen zu Abstrichen bei der Kaderstatik bereit gewesen wäre. Die anderen Last-Minute-Urlauber Petersen, Tah und Leno hatten es da einfacher, kämpften sie doch gegen direkte Konkurrenten.